Diesen Vortrag habe ich am 18. November 2023 bei der Fachtagung Friedensethik „20 Monate Krieg in der Ukraine“ in Halle (Saale) gehalten. Die Tagung wurde vom Reformierten Kirchenkreis der EKM in Zusammenarbeit mit dem Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum und der Theologischen Fakultät der MLU Halle-Wittenberg durchgeführt.
Für die Veröffentlichung auf dem Blog habe ich den Text ein wenig zusammengekürzt, vor allem in der Einführung, die doch stark kontextuell auf das Vortragssetting zugeschnitten war. Die Ausführungen zum friedensethischen Diskurs sind unverändert. Ich habe Links zu den erwähnten Texten und Reden im Fließtext ergänzt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung, die ich sehr gerne angenommen habe. „Theologe und Christ“ sind die „Erinnerungen und Bekenntnisse“ des großen Hallenser Theologieprofessors Martin Kähler überschrieben. Das wichtigste Wort in diesem Titel ist, wenn ich mich richtig erinnere, das „und“. Sie haben mich eingeladen, um „eine journalistische Perspektive auf die Rolle der Kirchen“ zu Ihrem Tagungsthema einzuholen. Ich bin Journalist und Christ oder Christ und Journalist, mindestens jedenfalls, neben anderen Selbst- und Fremdzuschreibungen.
Ich befasse mich mit der aktuellen Kirchenpolitik im deutschsprachigen Raum. Meine Schwerpunktthemen sind die Digitalisierung in den Kirchen, Kirche und Rechtsextremismus und sexualisierte Gewalt und anderer Missbrauch in der Evangelischen Kirche. Als Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“ befasse ich mich zwangsläufig auch mit weiteren gesellschaftlichen und politischen Themen, also beispielsweise auch mit Sozial- und Gesellschaftspolitik, der Religionspolitik im engeren Sinne, dem Islam in Deutschland, der Klimakrise und aktuellen Kriegen .
Am 25. Februar 2022 stiegen wir in unserem kleinen Online-Magazin in die Berichterstattung zum Ukraine-Krieg ein mit einem Podcast, den ich noch am Abend des 24. Februars mit der katholischen Theologin und Ostkirchenexpertin Regina Elsner aufgenommen hatte. Darin befragte ich sie nach der Rolle der Kirchen im Konflikt, der am Morgen desselben Tages erneut zu einem akuten Krieg geworden war. Seitdem sind insgesamt 58 Beiträge zum Ukraine-Krieg in der Eule erschienen. Davon sind 26 Ausgaben unseres wöchentlichen Newsletters „Links am Tag des Herrn“, in dem wir auf Inhalte anderer Medien hinweisen und diese kritisch einordnen. Mit Regina Elsner habe ich im Dezember 2022 erneut für unseren Podcast gesprochen. Ihre scharfe Kritik an der Religionspolitik der Regierung Selenskyj erschien auch in schriftlicher Form. Außerdem führten wir Interviews mit der jungen ukrainischen Kirchenmusikerin Dariia Lytvishko, dem ehemaligen Pastor der evangelisch-lutherischen St. Katharinenkirche in Kiew, Ralf Haska, mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und ein weiteres Podcast-Gespräch mit Judith Königsdörfer vom Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum und damals noch im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen.
Die junge ukrainische Journalistin Maria Karapata berichtete für uns vom Alltag des Krieges in Kiew. Auch im Gespräch über Dorothee Sölle mit der Jenenser Systematikerin Sarah Jäger ging es um den Ukraine-Krieg. Es lässt sich als Interview im Magazin finden und auf YouTube als Video im Rahmen unseres Projekts „WIDERSTAND! Dorothee Sölle und der Osten“, das wir in Partnerschaft mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in diesem Jahr durchführen.
Besonders möchte ich Sie auf die friedensethischen Interventionen von Michael Haspel und des Mennoniten-Pastors Benjamin Isaak-Krauß in der „Eule“ hinweisen, die im März 2022 erschienen sind, und an Aktualität nichts eingebüßt haben. Wenn Sie dann noch über den ein oder anderen Artikel von mir über den friedensethischen Diskurs oder meine flammende Verteidigung der aktuellen EKD-Ratsvorsitzenden anlässlich ihrer Reformationstagspredigt 2022, oder vor allem die Berichte über die schwierige Ökumene mit dem Moskauer Patriarchat (hier, hier & hier) stolpern, wäre ich hoch erfreut. Hier endet der Werbeblock.
Allerdings handelte es sich bei diesem Überblick nicht allein um Werbung, sondern auch um ein inhaltliches Statement: Wer Konflikte wie den Ukraine-Krieg verstehen will, muss auf die Expertise und die Erfahrungen zahlreicher Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen zurückgreifen. Das dauert und macht Mühe. Konfliktverständnis bedarf der diskursiven Gruppenarbeit und muss reifen. Das trifft auf alle Akteur:innen zu, auf Privatleute wie auf Kirchenleitende, auf Theolog:innen wie auf Journalist:innen.
Was ich als Journalist kommuniziere, sollte nicht einfach ziemlich sicher richtig sein, es muss stimmen. Sonst setze ich meine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Die aus meiner Perspektive wichtigsten Werkzeuge eines Journalisten sind: 1. Glaubwürdigkeit, 2. Neugier, 3. Expertise zu jenen Themen, zu denen ich mich äußere, und 4. das kreative Vermögen, Ausdrucksformen zu finden, die Leser:innen, Hörer:innen oder Zuschauer:innen gut verstehen können.
Im Werkzeugkasten einer Theologin, die sich in aktuelle Debatten einschaltet, könnten sich befinden: 1) religionshermeneutische Expertise 2) eine umfassende historische Orientierung 3) Textkompetenz 4) ethische Urteilskraft im Horizont der eigenen religiösen Tradition.
Was aber findet sich im Werkzeugkasten einer Christ:in, die sich mit Kriegen und Krisen konfrontiert sieht? Haben Christen überhaupt etwas, sogar etwas Spezifisches, im Gepäck, das bei der Bearbeitung einer Krise wie dem Ukraine-Krieg helfen kann?
Als Journalist und Christ muss ich sie leider enttäuschen. Ich kann Ihnen die mir gestellten Fragen nicht beantworten: Was soll(t)en wir jetzt sagen? Was sollte die Kirche jetzt sagen? Ich bin für die Beantwortung dieser Fragen weder mandatiert noch mit der erforderlichen Expertise in friedensethischen, ökumenischen oder sicherheitspolitischen Fragen ausgestattet. Was ich Ihnen heute anbieten kann, ist meine journalistische Perspektive auf drei Problemlagen der kirchlichen Debatten im Kontext des Ukraine-Krieges – und zum Schluss eine Ermutigung.
1) Sprecherpositionen klären
Bis hierhin habe ich eigentlich nichts anderes versucht, als meine eigene Sprecherposition zu klären. Nicht nur für mich selbst, sondern coram publico, vor aller Welt. Das lege ich Ihnen und den kirchlichen Akteur:innen für die weitere Debatte ans Herz.
In der Evangelischen Kirche ist viel kaputt gegangen und ihr Bild in der Öffentlichkeit hat Schaden genommen, weil es an klaren Sprecherpositionierungen im Kontext der Auseinandersetzung zum Ukraine-Krieg gefehlt hat – und zum Teil bis heute fehlt. Das hat systemische Gründe, die viel gerühmte evangelische Vielfalt gehört sicher dazu, aber gelegentlich ist es einfach auch kommunikatives Unvermögen.
Im Falle des Ukraine-Krieges finden Stellungnahmen von Papst Franziskus ebenso Gehör wie die Meinung der Theologin und damaligen BILD-am-Sonntag Kolumnistin Margot Käßmann. Vor allem aber die Kriegspropaganda des Moskauer Patriarchen Kyrill und seiner Russisch-Orthodoxen Kirche und die religiösen Geschichtsdeutungen Vladimir Putins.
Sie werden der Verantwortungsgemeinschaft der Christen im Allgemeinen zugeordnet. Kirchen und Christen werden für Äußerungen und das Handeln anderer Menschen in Mithaftung genommen, die sich als Christen in der Diskussion und im konkreten Kriegshandeln positionieren. Zum Beispiel mit der Segnung von Panzern. Kommunikativ befinden sich die Kirchen also in der Bringschuld, in der Defensive, in Rückenlage. Von ihnen wird mindestens eine glaubwürdige Distanzierung von der Kriegspropaganda und vom Gottesdienst feiernden russischen Präsidenten erwartet.
Weil Kriegszeiten nun einmal Zeiten extremer Polarisierung sind und Medien ihren Eigengesetzlichkeiten folgen, werden die Distanzierungsforderungen heftiger und verfehlen durchaus gelegentlich die richtigen Adressaten. Sie finden statt in unserer zunehmend säkularisierten und auch religiös pluralen Gesellschaft und werden deutlich weniger durch Religionskompetenz in den Medien begleitet als noch vor wenigen Jahren.
Solche Distanzierungsforderungen erstreckten sich in den vergangenen bald zwei Jahren auch auf diejenigen, die sich aus ihrer christlich-pazifistischen Überzeugung heraus gegen eine Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen aussprachen und/oder vor einem Kriegseintritt der NATO oder gar einer atomaren Kriegsführung Russlands warnten.
Dabei spielt die Unklarheit von Sprecherpositionen eine große Rolle, denn was man als Christ sehr wohl für wahr und richtig halten und jederzeit äußern kann und darf, gewinnt aus dem Mund von Kirchenleitenden eine weitere Bedeutungsdimension: Wie hält es die Kirche mit der Seelsorge in der Bundeswehr, wenn Kirchenleitende mit maximaler Emphase jeden Dienst an der Waffe zur Sünde erklären? Wie ist es um die Glaubwürdigkeit der Kirchen bestellt, wenn sie Kyrills Kriegspropaganda nicht widersprechen, sondern in einer dialogischen Haltung verharren? Wie steht es um die Ernsthaftigkeit des Dienstes am Wort, wenn das biblische Zeugnis in den Mündern von Theologen einseitig zugunsten der je eigenen friedensethischen Überzeugungen ausgelegt wird?
Für die Evangelischen Kirchen tritt hier noch die Schwierigkeit hinzu, dass jede:r evangelische:r Christ:in ihren Glauben selbst vor Gott verantwortet, auch die aus ihm abgeleiteten ethischen Überzeugungen, auch in Sachen Krieg und Frieden. Wer überhaupt könnte sich anmaßen, für eine oder gar die Evangelische Kirche zu sprechen?
In der Praxis wird dieses Problem durch das synodale Prinzip zwar nicht gelöst, aber doch bearbeitet. Anders wäre evangelische Kirche überhaupt nicht handlungsfähig. Pfarrer:innen und leitende Geistliche sind qua Amt zur öffentlichen Wortverkündigung berufen und daher auch mit der ethisch-lebensweltlichen Orientierung ihrer Gemeinden und Kirchen betraut. In Deutschland wartet allerdings niemand mehr darauf, was ein Landesbischof von Schaumburg-Lippe oder Kirchenpräsident von Anhalt zu den großen Weltproblemen zu sagen hat – eine Entlastung, würde ich meinen. Nur gelegentlich noch werden die Kirchen befragt und dann – das hat auch die gerade aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 6 wieder gezeigt – schaut man auf die Spitzenvertreter:innen. Im Falle der Evangelischen Kirche also auf die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Als von der EKD-Synode gewählte Person verfügt die Ratsvorsitzende gewiss über ausreichende synodale Legitimation, um für die evangelische Kirche – unter Berücksichtigung der ihr konfessionell eingeschriebenen Spezifika – zu sprechen. Annette Kurschus, die gegenwärtige Ratsvorsitzende, sprach zu Beginn des Ukraine-Krieges auf einer sehr großen Friedenskundgebung in Berlin. Sie schöpfte aus der evangelischen Tradition, indem sie Matthias Claudius zitierte:
„’s ist Krieg! ’s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!“
Das ist mutig und liegt ganz auf der kommunikativen Linie, die zu stärken Annette Kurschus angetreten ist und für die sie in das Amt der Ratsvorsitzenden gewählt wurde: Nämlich sehr viel geistlicher und seelsorglicher in die Gesellschaft hinein zu sprechen als ihr direkter Amtsvorgänger Heinrich Bedford-Strohm. Kurschus‘ Rede ist eine explizit theologische Rede, würde ich als Nicht-Theologe meinen, ein geistliches Wort, trotzdem natürlich außerordentlich politisch. Sie enthält alle Talking Points, die von einer Ratsvorsitzenden der EKD erwartet werden: Kritik an Putin, Kritik an der Verzweckung des Glaubens durch Kyrill (ohne Namensnennung), Mitleid mit den Opfern, Hoffnung auf Frieden und auch das Engagement für Geflüchtete.
Wurde die Rede verstanden? In ihrer Eigenheit respektiert? Medial jedenfalls wurde sie vor allem in christlichen Medien überhaupt zum Thema. Es ist ein schmaler Grat zwischen der notwendigen anderen Temperatur, die man einer kirchlichen Stellungnahme im Vergleich zu jenen von Politiker:innen ja anmerken soll, und völliger Unverständlichkeit. In direkter zeitlicher Nähe zum Auftritt in Berlin wurde Annette Kurschus in die reichweitenstärkste politische Talkshow in Deutschland „Anne Will“ eingeladen. Von ihrem Auftritt dort ist in die Berichterstattung eingegangen:
„Wir müssen uns davor hüten, das als Alternative zu sehen: Kämpfen oder Reden. Es braucht beides.“
Das war in ihrer Ausgewogenheit zwischen Diplomatie und Unterstützung des Verteidigungskampfes der Ukraine im März 2022 schon eine Äußerung, die für manche Diskursteilnehmer:innen kaum hinnehmbar war. Dramatisch allerdings war nach meinem Empfinden das, was auf die Rede folgte, nämlich weitgehend: Nichts. Die Ratsvorsitzende verstummte zwar nicht, aber in die mediatisierte Öffentlichkeit trat sie erst im Sommer 2022 wieder und zwar mit einem sehr langen, komplizierten Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (€). Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich freue mich an einer Ratsvorsitzenden, die solche Texte produzieren kann, aber ihre öffentliche Kommunikation darf sich nicht in einem fachsprachlichen und höchst voraussetzungsreichen Text hinter der Paywall einer einzelnen Zeitung erschöpfen.
Das Wort überließ Kurschus in diesen ersten Monaten des Ukraine-Krieges vor allem dem sog. „Friedensbeauftragten der EKD“, dem hier anwesenden Landesbischof der EKM, Friedrich Kramer, den in sein Amt als Friedensbeauftragter allerdings im Unterschied zu ihr keine Synode gewählt hat. Friedensbeauftragter des Rates der EKD, heißt es darum auch korrekt – wenngleich die Medien in Deutschland und auch viele Medienkonsument:innen an dieser feinen Unterscheidung scheitern. Der Rat der EKD wählt für wichtige Handlungsfelder besonders beauftragte Personen, die ihm zu ihren Arbeitsfeldern Bericht erstatten. Wie häufig das überhaupt vorkommt, verdient in jedem Einzelfall eine kritische Nachfrage.
Für wen spricht der Friedensbeauftragte? Das ist eine Frage, die innerevangelisch seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges viele Menschen beschäftigt: Für die Evangelische Friedensarbeit in den Kirchen? Die evangelischen Friedensbewegungen? Die Evangelische Kirche in Fragen von Krieg und Frieden? Auch wenn Medien und Medienkonsument:innen mit in die Pflicht zu nehmen sind: Die erste Pflicht zur Klärung von Sprecherpositionen liegt bei den Sprechenden selbst.
Im Übrigen gilt dasselbe auch für den vom Rat der EKD und der Kirchenkonferenz im Einvernehmen mit der Bundesregierung gewählten Evangelischen Militärbischof, derzeit Bernhard Felmberg. Auch ihn hat keine Synode jemals gewählt, wie es bei evangelischen Bischöf:innen eigentlich der Fall sein sollte. Die EKD hat überhaupt erst seit 2014 einen hauptamtlichen Militärbischof. Damit sollte die Bedeutung der Seelsorge an den Soldat:innen der Bundeswehr gestärkt werden. Das kann ich gut verstehen, finde es auch persönlich richtig. Aber eine geklärte Sprecherposition ergibt sich daraus noch nicht. Spricht der Militärbischof für die evangelischen Soldat:innen der Bundeswehr? Wie das, wenn sie ihn doch nicht gewählt haben? Spricht er für die evangelische Militärseelsorge? Spricht er für die EKD zu Fragen von Krieg und Frieden?
Mit Erstaunen habe ich unterjährig zur Kenntnis genommen, dass nicht allein der Friedensbeauftragte gemeinsam mit seinen Co-Vorsitzenden aus Akademie und Theologie in der Friedenswerkstatt der EKD an einer Re-Formulierung der Friedensethik arbeitet, sondern daneben ein eigener friedensethischer Diskurs inklusive Expertenrunde beim Militärbischof angesiedelt wurde. Warum sitzt man nicht von Beginn eines solchen Nachdenkprozesses an gemeinsam am Tisch? Hat es in unseren evangelischen Kirchen nicht schon genügend Parallelstrukturen, als dass wir noch neuer bedürften?
2) Dissens öffentlich kommunizieren
Natürlich haben diese unterschiedlichen Arbeitswege einen „Sitz im Leben“: Er besteht in einer grundsätzlich anderen Meinung zum Kriegsgeschehen in der Ukraine und insbesondere in der Frage der deutschen Unterstützung durch die Lieferung von Waffen. Man wird hier aber sicher eintragen müssen, dass dieser Dissens sich zwar den unterschiedlichen Amtsträgern, aber nicht den Ämtern an sich verdankt. Oder anders: Nur weil jemand Bundeswehrsoldat:in ist, muss sie nicht auch für die Lieferung von „Leos“ an die Ukraine sein. Und nur weil jemand seit Jahrzehnten in evangelischen Friedensinitiativen mitarbeitet, muss er Waffenlieferungen nicht grundsätzlich ablehnen.
Vor allem aber wäre es sicher sinnvoll gewesen, den Dissens in der Frage der Waffenlieferungen auch transparent öffentlich zu markieren. In der gemeinsamen Erklärung des Friedensbeauftragten und des Militärbischofs vom 2. März 2022 „Deeskalation und Versöhnung sind das Ziel“ versichern beide, in „Gedanken und Gebeten bei den Menschen in der Ukraine“ zu sein. Ihre Stellungnahme ist ein Dokument evangelischer Konsenskultur und Kleinmütigkeit zugleich. Die im zeitlichen Nahumfeld drängende Frage nach der Legitimität von Waffenlieferungen aus Deutschland (oder mit deutscher Einwilligung) wird in ihr weder erwähnt noch argumentativ beleuchtet.
Dass Kramer und Felmberg hier unterschiedlicher Meinung sind, ist klar. Auch sprechen sie nicht allein in ihren jeweiligen kirchenamtlichen Rollen, sondern auch für zwei in den evangelischen Kirchen präsente Positionen. Warum wird das in einem gemeinsamen Statement nicht offen bekannt und diskutiert? Stattdessen darf sich die (Kirchen-)Öffentlichkeit mit ein paar dürren Stichworten begnügen.
Sollte es allein Ziel der sog. „Falken“ gewesen sein, Akteure wie den Friedensbeauftragten zu einem Eingeständnis der russischen Kriegsschuld zu bewegen, wurde dem mit der gemeinsamen Erklärung Genüge getan. Wir erinnern uns, dass gerade in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges 2022 diese Frage höchst engagiert diskutiert wurde, obwohl es ja so offensichtlich wie selten war, wer – nämlich Russland – hier der Aggressor ist. Man kann die Erklärung auch als Dokument einer basalen Verständigung lesen, ohne dass ihr als Mitteilung zweier Beauftragter des Rates der EKD irgendeine bindende Wirkung zustünde. Dann bliebe jedoch immer noch offen, was in der damaligen Lage jenseits von „besonnenem Reden und Handeln“ sowie Gebeten „vom Evangelium her geboten ist und sich in unserem kirchlichen Leben und Handeln praktisch und erkennbar niederschlägt“.
Vielleicht haben ja doch einzelne von ihnen die letzte Formulierung wiedererkannt? Sie entstammt den „Zwölf Leitsätzen zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“ , die sich die EKD im Jahr 2020 vorgenommen hat. Landesbischof Kramer hat an ihnen als Teil des Z-Teams, Z für Zukunft, mitgearbeitet. Darin enthalten der 4. Leitsatz, der empfiehlt, dann „zu gesellschaftlichen Prozessen öffentlich Stellung“ zu nehmen, „wo dies vom Evangelium her geboten ist und sich in unserem kirchlichen Leben und Handeln praktisch und erkennbar niederschlägt“.
Auch in der friedensethischen Debatte gibt es quer zum Gegeneinander von „Falken“ und „Tauben“ diejenigen, die sich von der Kirche vor allem eine Abkehr vom deklamatorischen Kommunikationsstil wünschen. Die Kirche solle vielmehr trösten und ganz generell weniger inflationär politisch Stellung beziehen. Doch würde man die „Zwölf Leitsätze“ missverstehen, wenn man sie als Aufforderung zum Schweigen verstünde. Vielmehr tragen sie den kirchlichen Akteur:innen eine strategische Kommunikation auf. Neben „Falken“ und „Tauben“, die in die Debatte je eigene, unverzichtbare Pointierungen einbringen, braucht es – no pun intended – Eulen. Gerade jüngeren Christ:innen sind die Frontstellungen vergangener Jahrzehnte häufig weder transparent noch nachvollziehbar.
Insbesondere die „Falken“ kommunzierten im Kalenderjahr 2022, anders als man es von rüstungsaffinen Akteur:innen erwarten dürfte, nicht mit offenem Visier: Pazifistische Positionen wurden von ihnen als „realitätsfern“ und „naiv“ abgekanzelt, ohne dass zugleich eine Alternative nebst ihren praktischen Konkretionen präsentiert würde. Ein gutes Beispiel dafür ist die Wortmeldung des evangelischen Militärbischofs Bernhard Felmberg auf dem Blog der „Experten-Initiative Religionspolitik“ (EIR) ebenfalls aus dem März 2022. Die EIR ist geschickt benannt, weil der Expert:innen-Titel Unabhängigkeit und Fachkenntnis suggeriert. Angeführt wird sie von CDU-nahen Akteur:innen aus dem Umfeld der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Die Redakteurin des Blogs ist seit 2013 als Referentin für die Stiftung in Berlin tätig.
Zu den GründerInnen gehören weitere KAS-Beschäftigte, der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck sowie eine Reihe von Kirchenrechtlern, darunter der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Hans Michael Heinig, und der Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Ansgar Hense. Die EIR verfügt daher nicht nur über erhebliche Kompetenz, sondern auch über Einfluss. An der Unternehmung ist nichts Ehrenrühriges, nur zeigt sie, dass von einer „generellen Verengung innerkirchlicher Debatten“ ganz und gar nicht die Rede sein kann.
Felmberg argumentiert in seinem Text ausdrücklich als evangelischer Militärbischof der Bundeswehr, indem er mehrfach auf die Perspektive der Soldat:innen rekurriert. Diese hätten die Frage nach einer verantwortlichen Friedensethik bereits „mit ihrem Diensteid oder im feierlichen Gelöbnis“ beantwortet: „Recht und Freiheit sind genauso verteidigenswert wie die äußere Sicherheit“. „Jetzt“ liege es auch an den Kirchen, „diese Frage in einer neuen friedensethischen Kultur zu beantworten“. Wie stellt sich Felmberg die neue „friedensethische Kultur“ vor, wenn doch die Friedensdenkschrift von 2007 – wie Michael Haspel in der Eule erklärt hat – „Recht und Freiheit“ keineswegs geringschätzt, sondern ausdrücklich die Option der rechtserhaltenden Gewaltanwendung beschreibt?
Was fragen Sie uns das und nicht Felmberg, könnten Sie nun mit einiger Berechtigung einwenden? Stimmt. Denn auch die christliche Publizistik hat sich im bisherigen Diskurs nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Viel zu häufig verharrt sie darin, kurz wiederzugeben, was Amtsträger verlautbaren. Die Tiefe des Diskurses spiegelt sie kaum wieder. Nachfragen wie „Wo führt das eigentlich hin, was Sie vorschlagen?“ werden zu selten gestellt. Ich schaue mit Neid auf die katholische Publizistik, die wenigstens noch eine gewisse Vielfalt verschiedener Medien aufweist, in denen man prinzipiell wissenschaftskommunikativ und diskursiv agieren könnte. Die Evangelische Kirche sei der europäischen Gesellschaft ihre „Disputationskompetenz“ schuldig, erklärte die Präsidentin der Reformierten Kirche Schweiz, Rita Famos, gerade als Gastrednerin bei der Versammlung der Union evangelischer Kirchen in Ulm. Wer für sich in Anspruch nimmt, der Polarisierung in der Gesellschaft Diskursivität als Leitwert entgegenzuhalten, der muss das auch mit Ressourcen untermauern.
Sie merken, dass ich hier doch nicht nur als Journalist, sondern auch als Christ spreche. Ich bekenne, dass es mich in meinem Christsein kränkt, wenn in der Kirche verschwiemelt kommuniziert wird, unehrlich miteinander geredet, wenn öffentliche Kommunikation mehr verschleiert als sie offenlegt. Ich wünsche mir ausdrücklich auch kein „geschwisterliches Gespräch“, in dem notwendiger Streit verdeckt wird. Ich finde schlicht, wir sind uns als Christenmenschen und Bürger:innen in der Demokratie Widerworte wechselseitig schuldig.
3) Aus dem Eigenen heraus sprechen
Ich möchte noch einmal zu den „Zwölf Leitsätzen zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“ zurückkehren. Akteur:innen der Evangelischen Kirche sollen Stellung beziehen, „wo dies vom Evangelium her geboten ist und sich in unserem kirchlichen Leben und Handeln praktisch und erkennbar niederschlägt“. Damit ist eine Richtung der Kommunikation vorgegeben: Vom Eigenen ausgehend soll gesprochen werden. Und vor allem dann und dort, wo sich mit dem Wort auch die konkrete Tat verbindet.
Für den Fall des Ukraine-Krieges bedeutete dies natürlich, Fragen der Kriegsführung und Friedensarbeit aus biblisch-theologischer Perspektive zu beleuchten. Aber das bliebe doch wohl intellektuelles Fingerspiel, wenn sich dazu nicht konkretes friedensschaffendes Handeln und die Sorge um die Opfer des Krieges stellte.
Was das Friedenschaffen in der Ukraine angeht, sind den Christen in Deutschland weitgehend die Hände gebunden. Dem Aggressor in die Hand fallen, das würde den Kontinent in Brand stecken. Friedensappelle aber verhallen in Putins und Kyrills Ohren unerhört. Ich benutze das Wort nicht leichtfertig, aber wer an einen langfristigen Frieden mit Putin und an eine „Ökumene des Herzens“ mit Kyrill glaubt, der ist mindestens naiv. Er läuft im Besonderen auch Gefahr, zum Werkzeug der Propaganda des Kremls oder des Moskauer Patriarchats zu werden. Insbesondere Papst Franziskus und auch der Ökumenische Rat der Kirchen wandern hier auf sehr schmalem Grat. Jedes Reden über den Ukraine-Krieg müsste in meinen Augen daher mit einem Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit beginnen oder auch der Verzweiflung über die verfahrene Situation. Daran ist nichts Ehrenrühriges.
Jedenfalls befremdet mich die martialische oder metaphorisch schiefe Rede von „Falken“ wie „Tauben“ viel mehr als ein verzagtes Schweigen an der richtigen Stelle. Ich glaube, so geht es vielen Christen, die sich von ihren Pfarrer:innen und Bischöf:innen vor allem Ernsthaftigkeit und Behutsamkeit wünschen, weil sie doch darum wissen, dass auch sie nur Menschen sind und Christen wie sie selbst. Unterschätzen wir die Christen nicht. Sie sind enorm ressourcenstarke, kluge und hoch engagierte Menschen – lesen Sie die neue KMU, da steht es.
Dann wäre da die Sorge um die Opfer des Krieges. In Deutschland leben gegenwärtig gut 1 Million Ukrainer:innen. Eine große Zahl von ihnen hat erste Hilfe in den Einrichtungen und Gemeinden der Evangelischen Kirche gefunden. Um viele von ihnen kümmern sich Ehren- und Hauptamtliche bis heute intensiv. Wir alle kennen Beispiele. Trotzdem spielt dieses ganz praktische Engagement in der kirchlichen Kommunikation eine eher untergeordnete Rolle. „Tu Gutes und sprich darüber“ liegt nicht in der evangelischen Persönlichkeitsstruktur, ok. Aber hier liegt nicht allein eine PR-Aufgabe vor den Kirchen, sondern eine gesellschaftliche Vermittlungsaufgabe, die nicht zuletzt in die aktuelle, völlig entglittene Migrationsdebatte hineinreicht.
Bevor wieder Flüchtlingsheime brennen, sollten die Kirchen hier laut und noch deutlicher werden. Wenn der Bundeskanzler den Kirchen für die Flüchtlingshilfe schon nicht danken will, wie bei seinem Auftritt auf dem Nürnberger Kirchentag, dann müssen sie selbst von den Geflüchteten, ihren Schicksalen und der gebotenen Hilfe erzählen. Jeden Tag, immer wieder. Im Übrigen sind sich in dieser Frage (fast) alle evangelischen Christen einig, jenseits von Unterschieden in Frömmigkeit, Lebensstil und Reichtum. Die Christen halten dieses Land im Ehrenamt am Laufen und garantieren für die Aufnahme von Geflüchteten. Sie setzen sich für eine gerechtere Gesellschaft und ihre Umwelt ein. Es gibt keinen Grund, sich dessen zu schämen. Und von hier aus können auch Forderungen an die Politik vorgebracht werden.
„Vom Eigenen sprechen“ bedeutet aber auch eine Limitierung der eigenen Rede, für Christen, für Theolog:innen im Allgemeinen und für kirchliche Beauftragte im Besonderen: Sie sind eben nicht Expert:innen für alles, weder für Sicherheitspolitik, noch für die europäische Geschichte, ja, auch nicht für die moralische Ausdeutung deutscher Schuldigkeiten gegenüber unseren europäischen Nachbarn. Da rutscht immer wieder in den Argumentationen etwas zusammen, was besser getrennt gehört.
Bloß weil Botschaften mit auch theologischen Vokabeln wie Schuld, Sühne, Vergebung und Gerechtigkeit aufgeladen werden, sind sie nicht per se theologische Rede. In den gedanklichen Spuren von Rita Famos bedeutet „Diskursivität herstellen“ hier: Den Hintergrund dieser Begriffe, auch ihren christlichen, transparent darstellen, nicht ihre Einführung in den Diskurs als Debattenstopper. Das habe ich in den bald zwei Jahren Ukraine-Krieg viel zu selten erlebt – im gegenwärtig eskalierenden Nahost-Konflikt noch viel weniger. Sie haben das in den „Reizworte“-Workshops heute morgen versucht. Vielen Dank dafür!
Ermutigung
Ich hatte Ihnen versprochen, an das Ende meines Impulses eine Ermutigung zu stellen. Sie ist mir selbst erst vor wenigen Tagen auf der EKD-Synode in Ulm widerfahren – ausgerechnet auf dieser völlig verunglückten Tagung. Am Montagabend sprach da Christina Brudereck über die Sprach- und Handlungsfähigkeit im Glauben. Es ist eigentlich völlig überflüssig, an dieser Stelle längere Erklärungen ihrer Rede vorzunehmen – oder war es eine Predigt? eine poetische Intervention? Schauen Sie sich diesen Impuls doch einfach an. Sie finden ihn zum Beispiel auf YouTube.
Abgesehen davon, dass in ihrer Rede jedes Wort sitzt, klug gewählt, ja das wirklich am besten passende deutsche Wort an der richtigen Stelle im Verlauf der Rede ist, spricht sie in großer performativer Klarheit. Es sind auch Gesten, Stimmlagen und Blicke, die hier mit erzählen. Wenn wir das doch nur häufiger könnten: uns beim Debattieren über Krieg und Frieden wirklich in die Augen schauen.
Und das bringt mich zur zweiten Ermutigung: Sprechen Sie miteinander! In einer Passage ihrer Rede auf der Synode berichtet Brudereck von einem gezielt forcierten Gespräch über die Corona-Zeit in ihrer Gemeinde. Lebenserfahrungen aus dieser schwierigen Zeit kommen zur Sprache. Es geht wohlgemerkt nicht darum, Urteile über die Corona-Politik auszutauschen, rücksichtlose Gesellen und ihre sophistischen Argumente nachträglich ins Recht zu setzen, alles besser zu wissen. Nein, da erzählen Menschen davon, wie schwer es war, Angehörige ohne eine würdige Bestattung zu Grabe zu tragen. Wie bitter es war, Kindergeburtstage ohne die Großeltern und Schulfreunde feiern zu müssen. Und Jugendliche davon, wie es sich anfühlt, wenn man so viel Zeit verliert, die man mit Knutschen und ja: in der Schule hätte verbringen können.
Wie könnte ein solches Gespräch über Krieg und Frieden in evangelischen Gemeindehäusern ausschauen? Ein Gespräch, das kein Podium und keinen Zuschauerraum kennt, wo in Fragerunden keine Co-Referate gehalten werden, sondern wo gerade jene zu Wort kommen, die sonst schweigen, weil sie keine eingeübte Sprache für die großen Konflikte unserer Tage haben, weil sie zu schüchtern oder unsicher sind, um mit Großsprechern mitzuhalten, weil sie mehr Zweifel, denn Gewissheiten mit sich herumschleppen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.