„Gewalt fällt nicht vom Himmel“ – Männer und Missbrauch in der evangelischen Kirche

Diesen Vortrag habe ich am 26. November 2024 bei einem vom Arbeitskreis Aufarbeitung der ChristusKirche Köln gestalteten Gottesdienst in der ChristusKirche Köln gehalten.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Gewalt fällt nicht vom Himmel“. Ich bin Journalist und Magazinmacher und möchte deshalb mit drei medialen Schlaglichtern meinen Vortrag über „Männer und Missbrauch in der evangelischen Kirche“ beginnen.

Also: „Gewalt fällt nicht vom Himmel“. So hat die Journalistin Silke Niewenhuis ihre persönlichen Erkundungen zum gestrigen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen beim WDR überschrieben. “Gewalt fällt nicht von Himmel. Und niemand würde sich freiwillig mit einer gewalttätigen Person zusammentun”, sagt Maren Diekmann vom Frauenzentrum in Troisdorf im Rhein-Sieg-Kreis, mit der die Journalistin für ihre Recherche gesprochen hat. Es gäbe Warnzeichen dafür, wann man es mit einer potentiell gewalttätigen Person zu tun haben könnte:

„Wenn ein Partner etwa ständig wissen will, was seine Partnerin unternimmt oder wenn er versucht, ihre Kontakte zu anderen Personen einzuschränken. Es kann auch sein, dass er einfach oft eifersüchtig reagiert. […] Aber auch so genanntes Love-Bombing, das Überschütten der Partnerin mit Liebesbekenntnissen, kann der Beginn einer ungesunden Vereinnahmung sein.“

Die wenigsten Frauen kämen von selbst in die Beratungsstelle, erklärt Diekmann weiter, man müsse die Betroffenen aktiv aufsuchen. Die Betroffenen.

„Wenn alle vier Minuten eine Frau in Deutschland Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner erlebt, wie das BKA beziffert, dann kennt vermutlich jeder von uns eine Betroffene. Bei 12 Millionen Frauen pro Jahr, Tendenz steigend, kann es nur Hilfe geben, wenn es auch ein Hinsehen gibt.“

Warnzeichen. Hinsehen. Hingehen.


“Ich bin stolzer Opa“, erzählt Moderator und LGBTQI-Aktivist Gianni Jovanovic in der 122. Folge des „Und was machst du am Wochenende?“-Podcast der ZEIT vom 16. November 2023. Jovanovic moderiert die deutsche Version der Reality-TV-Show „Drag Race“. Er lebt hier in Köln. Geboren wurde er 1978 in Rüsselsheim in eine Roma-Familie. Mit 14 wurde er zwangsverheiratet, noch vor dem Schulabschluss war er zweifacher Vater. In seinen Zwanzigern emanzipiert er sich von seinen christlich-orthodoxen Eltern, die in den Traditionen der Roma leben. Er outet sich als schwul. Heute ist Gianni Jovanovic bereits dreifacher Großvater und ist seit 20 Jahren mit seinem Partner liiert.

Jovanovic erzählt von dem gedeckten Familientisch, den er seinen Kindern und Enkeln heute bereitet. Er weine auch viel mit seiner Tochter zum Beispiel, die sich als Mutter oft alleingelassen und verloren fühle. Überhaupt das Weinen. Im Verlauf des Podcasts wird klar, das Weinen ist eine Konstante in Jovanovics Leben: Er hat es in seiner Herkunftsfamilie gelernt, in der viel geweint und getrauert wurde, um die Roma, die von Nazis angegriffen wurden in den 1990er-Jahren zum Beispiel. Er versteht, so erklärt er, heute seine Eltern und vor allem seinen Vater, der ihn mit 14 zur Heirat zwang. Als einziger Sohn lastete auf ihm die Zukunft der Familie. Gianni Jovanovic erzählt, wie er sich als Jugendlicher im Klaren darüber war, wie anders das Leben in seiner vom Rassismus bedrohten Familie gegenüber dem Leben seiner Klassenkameraden war. In seiner Bubble, im Gegenüber zur feindlichen Außenwelt. Anders. Schwierig. Einengend. Aber nicht grundlos. Und heute? Jovanovic erzählt:

„Ich bin so eine Mischung aus Vater-Figur, Opa-Figur und Großer-Bruder-Figur“ und „Meine Enkelkinder dürfen alles machen und tun und sein bei mir. Sie können frei sein und sich safe und sicher fühlen bei ihrem Großvater.“


Am 15. November 2019 hält Kerstin Claus, Mitglied des Betroffenenrates beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), auf der Tagung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Dresden eine bemerkenswerte Rede. Eine Rede, die zwischen all den Berichten, Statements, Predigten und Andachten der Tagung heraussticht. Kerstin Claus ist Betroffene sexuellen Missbrauchs in der bayerischen Landeskirche. Heute ist sie selbst UBSKM der Bundesregierung.

Am 13. Dezember diesen Jahres wird sie eine „Gemeinsame Erklärung“ unterzeichnen, die Diakonie und EKD mit ihr als Vertreterin der Bundesregierung schließen. Es wird endlich unabhängige Aufarbeitungskommissionen geben, nach vier Jahren intensiven, immer wieder unterbrochenen, schwierigen Verhandlungen. Neun solcher Kommissionen sollen dort weiterarbeiten, wo die ForuM-Studie die Evangelische Kirche im Januar 2024 entlässt. Neun Kommissionen, die regionale Tatschwerpunkte identifizieren, Betroffene und Täter quantitativ und qualitativ untersuchen, ansprechbar sein sollen.

Ich kehre immer wieder zu der Rede von Kerstin Claus von 2019 zurück. Sie ist für mich persönlich die Initialzündung gewesen, mich intensiv mit dem Thema „Missbrauch evangelisch“ zu befassen. Seit vier Jahren bin ich also „dran“ am Thema, vor allem an den institutionellen Fragen, die sich bei der sog. Aufarbeitung stellen. Aufarbeitung, dieser schillernde Begriff, der so häufig im Munde geführt wird, aber selten erklärt: Prävention, Intervention, Aufklärung, Entschädigung bzw. Anerkennung – das sind vier Aufgaben von Aufarbeitung. Es gibt die individuelle Aufarbeitung, die jede:r Betroffene:r für sich selbst gestaltet. Wie Kerstin Claus 2019 erklärt hat, ist sie nicht das Herrschaftsgebiet der Kirche. Sie könne dabei höchstens auf Nachfrage behilflich sein. Und es gibt die institutionelle Aufarbeitung:

„Institutionelle Aufarbeitung muss Taten und deren Ermöglichungsstrukturen offenlegen. Taten und ihre Kontexte müssen aufgedeckt und auch öffentlich benannt werden, [..]. Wer wusste damals Bescheid? Wer hätte hinhören oder hinschauen müssen? Wer hätte hinschauen können? Welche Strukturen haben den Missbrauch damals begünstigt?

Aber auch: Wer übernimmt heute Verantwortung, und zwar in genau dieser Einrichtung, in genau dieser Gemeinde? Was muss heute also dort ausgesprochen werden können, wo Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt erlebt und erlitten haben?

Und schlussendlich braucht es eine Erinnerungskultur, die die Auseinandersetzung mit den Taten heute und auch in Zukunft ermöglicht und damit eine Voraussetzung dafür schafft, damit künftig ganz konkret auch an diesen jeweiligen Orten Kinder besser geschützt werden.“

Institutionelle Aufarbeitung braucht, so Claus 2019, gemeinsam mit Betroffenen „gestaltete Strukturen, die sicherstellen, dass Betroffene über jeden einzelnen Schritt dieses gemeinsamen Weges mit entscheiden können, damit es dann tatsächlich „gut werden“ kann.“

Ich kehre immer wieder zu der Rede von Kerstin Claus zurück, weil sie eine Art Blueprint für den Weg ist, den die EKD und die evangelischen Landeskirchen in den letzten Jahren gegangen sind und auf dem sie noch unterwegs sind – zu dem sie auch von Betroffenen und gelegentlich von Medien und einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit gezwungen werden mussten und weiterhin müssen.

Die Betroffenenbeteiligung ist so, wie sie Kerstin Claus 2019 in ihren Grundzügen gefordert hat, zu einem großen Teil seit dem Jahr 2022 im Beteiligungsforum (BeFo) der EKD sichergestellt. Nach vielem Ärger und Verletzungen, die beim ersten Versuch, dem EKD-Betroffenenbeirat, entstanden sind. Es ist besser geworden. Zumindest für diejenigen Betroffenen, die von ihrer Kirche, in deren Raum sie Gewalt erfahren haben, noch etwas wissen wollen, ja, die sogar bereit sind, ihrer Kirche bei der institutionellen Aufarbeitung zu helfen. Darunter viele Kirchenmitarbeiter:innen. Es gibt andere Betroffene, ohne Stimme, ohne kirchlichen Stallgeruch, ohne Agency und bisher ohne sichtbare Stellvertretung.

Die sog. Anerkennungsleistungen sollen endlich vereinheitlicht werden, noch so eine Forderung, die seit vielen Jahren von Betroffenen erhoben wird. Und Betroffene sollen in kirchlichen Disziplinarverfahren eine Stimme bekommen und Informationen. Auch das ist noch nicht Kirchengesetz. Die ForuM-Studie im Januar mit ihren erwartbar hohen Fallzahlen und Schilderungen spezifisch evangelischer Tatkontexte wird „wehtun“, sagen diejenigen Betroffenen, die die Studie begleitet haben. Sie müssen es wissen.

„Sie werden ihre Deutungshoheit aufgeben müssen“, sagte Kerstin Claus auf der EKD-Synode 2019. Das fällt den Kirchen bis heute schwer. Das fällt Kirchenleitenden bis heute schwer. Aufarbeitungsprozesse, insbesondere Intervention, Aufklärung und Anerkennung  in unabhängige Hände legen, weil es anders nicht geht. Bei diesen Lernprozessen zuzuschauen, sie als Journalist kritisch zu begleiten, fällt nicht immer leicht. Warum geht es nicht schneller? Warum haben manche kein Einsehen darin, wie gute Prozesse gestaltet werden müssen? Es wurde ihnen doch hunderte Male erklärt!

Lesen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Rede von Kerstin Claus, in den kommenden Tagen einmal! Sie finden sie womöglich noch als PDF auf der EKD-Website. Einfacher aber in der Eule, wo wir die Rede noch am selben Tag veröffentlicht haben. Sie bildet den Startpunkt unseres Themenschwerpunkts „Missbrauch evangelisch“.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Männer und der Missbrauch in der evangelischen Kirche“. Männer also. Wer über sexualisierte Gewalt und andere Formen des Missbrauchs in der evangelischen Kirche sprechen will, der muss über die Männer sprechen. Die Täter:innen sind zu großem Anteil Männer. Ja, es gibt auch Frauen, die sich an Kindern vergehen, sexualisierte Gewalt kommt, das haben wir gelernt, auch in sublimierter Form in jener Gewalt vor, die im diakonischen Kontext jahrzehntelang alltäglich war. Schläge auf den Po sind nicht einfach Gewalt, ihnen wohnt eine Komponente der sexuellen Erniedrigung inne. Sexualisierte Gewalt beginnt nicht erst mit der Penetration. Das was wir Vergewaltigung nennen, geschieht häufig erst, wenn die Täterbiografie altert. Die Gewalt eskaliert immer weiter, immer mehr. Weil Täter sich sicher fühlen durften, weil ihnen niemand Einhalt gebietet, weil die Lust an der Erniedrigung, am Machtgewinn von Tat zu Tat steigt. Weil die Enthemmung zunimmt.

Ich bin weder Psychiater, noch Soziologe, noch Theologe und ich bin auch kein Betroffener sexualisierter Gewalt oder eines anderen Missbrauchs. Ich bin ein Mann. Ich bin evangelisch. Ich bin Lutheraner. Ich bin in der Kirche aufgewachsen und ich bin ihr verbunden bis heute, im Ehrenamt, familiär und in kritischer Distanz und Nähe beruflich. Wer über sexualisierte Gewalt und andere Formen des Missbrauchs in der evangelischen Kirche sprechen will, der muss über die Männer sprechen. Männer müssen über Männer sprechen.

Wenn wir über Missbrauch in der verfassten Kirche sprechen, dann begegnen uns wiederkehrend typische Täterbiografien und Tatkontexte. Die ForuM-Studie wird hier – so meine Erwartung – schwarz auf weiß belegen, was diejenigen, die sich seit vielen Jahren mit der Frage des Missbrauchs befassen, schon lange wissen. Was uns Betroffene erzählen. Ja, was viele Menschen in der Kirche wissen konnten.

„Tochterfrau nannte er mich – Geschichte eines Mißbrauchs“ ist ein Buch der pseudonymen Autorin Jule Wolf überschrieben, das 1994 in der Reihe „Die Frau in der Gesellschaft“ im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen ist. Darin schildert sie die sexualisierte Gewalt, die sie durch ihren Vater, einen evangelischen Pfarrer, erlitt. Und auch eine Vergewaltigung durch einen Kirchenmitarbeiter, der unter dem Schutz ihres Vaters in der Gemeinde beschäftigt war. Sie schildert das Leben im Pfarrhaus, die eigentümlichen Dynamiken dieses besonderen gesellschaftlichen Ortes, der zugleich privat und öffentlich ist. Sie erzählt von ihrem Vater, dessen „Tochterfrau“ sie gewesen war, der sich um alles und jeden kümmerte, und dessen private Seite Geheimnisse bereithielt, die seine Bewunderer:innen in der Gemeinde und in seiner Kirche nie zu Gesicht erhalten sollten. Und in dem Moment, in dem alles aufflog, auch nicht zur Kenntnis nehmen wollten.

Das Buch wird im kommenden Jahr 30 Jahre alt. Die in ihm geschilderten Taten liegen 40 und mehr Jahre zurück. Sie führen uns an einen spezifisch evangelischen Tatort: das Pfarrhaus, und in einen spezifisch evangelischen Tatkontext: die Pfarrfamilie. Jahrelang und zum Teil noch heute beruhigten sich die Evangelischen damit, dass „wir“ ja das Problem der zum Zölibat gezwungenen, sexuell gehemmten Priester nicht haben. Das ist doch ein katholisches Problem! Bei „uns“ muss doch niemand seine Sexualität verleugnen, sondern kann sie in den geordneten Bahnen einer Ehe ausleben. Ja, selbst wenn dem nicht genug ist, wird sich doch eine Lösung finden. Man konnte auch in den 1980er/1990er-Jahren getrost in Trennung leben. Alleinstehende evangelische Pfarrer wurden vielleicht schräg angeschaut, aber in ihre Schlafzimmer wurde zunehmend nicht mehr hineinregiert. Hauptsache die Fassade stimmt. Sicher?

Nein, es wird immer deutlicher, dass die vielfältigen kirchenrechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und theologischen Ansprüche, die an eine Pfarrfamilie gestellt wurden, ein systemisches Risiko für diejenigen darstellten, die in und um die Pfarrfamilie herum verletzlich waren. Die eigenen Kinder, die Pfarrfrau, Gäste des Hauses – von denen es in den „offenen Pfarrhäusern, die jede Bedürftige herzlich aufnahmen“ nicht wenige gab – Kinder und Jugendliche, die durch die Gemeindearbeit im Haus waren, auch ehren- und hauptamtliche Mitarbeiterinnen, die abhängig von der Gunst des Pfarrherren waren. Nicht alle wurden selbst in Täterhaushalten Opfer, sondern vielleicht zu stillschweigenden Mitwisser:innen, Ahnenden, Schweigenden. Den Helden im Talar muss man in Schutz nehmen, wie auch sein katholisches Pendant, den heiligen Priester, der in der Eucharistie Christus selbst als Gegenüber zu seiner Gemeinde verkörpert. „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ Was aber ist mit dem Prediger?

Ein zweiter evangelischer Tatkontext: Die Jugendarbeit. Was aber ist mit dem Prediger? Vor allem, wenn er nicht abständig von der Kanzel herab predigt, sondern mitten unter uns Jugendlichen lebt und glaubt und feiert und ganz authentisch Christ ist? Ein Mann, der ganz im Leben steht, jung, vital, begehrenswert, der ein offenes Ohr für die Nöte von jugendlichen Jungen und Mädchen hat, mit dem man über alles reden kann, über die erste Liebe, über Sex, über Pornografie und Selbstbefriedigung. Ein Mann, der nicht verurteilt, sondern der lebensklug ist, der akzeptiert, der ermutigt. Der streichelt, die Seelen und irgendwann auch die Schulter und dann mehr. Mit dem man nicht nur über Pornos reden kann, sondern der zum Filmabend einlädt, mit diesen seltsamen irgendwie schwülen Künstler-Filmen. Bei dem Alkohol getrunken werden darf und geraucht. Der entspannt ist und bei dem man sich sicher fühlen kann, bei dem es aufregend ist und dem man gefallen will.

Charismatische Führung kommt in vielen Formen in den evangelischen Kirchen vor. Jahrelang haben „wir“ uns damit begnügt, die offensichtlichen Fälle von Machtmissbrauch in der evangelikalen Bewegung, in charismatischen Gruppierungen zu sehen. Und es gibt sie ja tatsächlich, die Bruderschaften und Konvente, die neuen geistlichen Gemeinschaften. Eine nach der anderen musste Missbrauch durch ihre Gründer oder Führungskräfte eingestehen, katholisch wie evangelisch, fast jede Gemeinschaft ein Hotspot des Missbrauchs. Natürlich ist hier ein Generalverdacht gerechtfertigt.

Aber es gibt auch eine charismatische Führung, die sich so gut maskiert, dass sie als ihr Gegenteil erscheint. Der fröhliche Vikar, der beliebte Jugendleiter, die beide so betont egalitär und liberal daherkommen. Und ganz ehrlich: War es nicht über Jahrzehnte irgendwie – normal – dass junge Pfarrer, Vikare und Jugendmitarbeiter auch Beziehungen in der Gemeinde knüpften, sich verliebten – solange geheiratet wurde und alles in die gewohnten Bahnen kanalisiert, ist doch alles ok. Sicher?

Wenn wir über „Männer und den Missbrauch in der evangelischen Kirche“ sprechen, dann sprechen wir vor allem über Täter. Es gibt auch Männer und Jungen unter den Betroffenen. Es sind nicht wenige. Aber da ist – spezifisch evangelisch – eben auch die Gruppe der Mädchen und jungen Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren und sind. Es sind prozentual vermutlich deutlich mehr als in der katholischen Kirche. Aber genau werden wir das erst wissen, wenn auch in der katholischen Kirche nicht mehr vor allem und fast ausschließlich nach Priestern als Tätern geschaut wird.

Wegen dieser Fälle jedenfalls spreche ich weiterhin auch von sexuellem Missbrauch und nicht, wie die Evangelische Kirche es bevorzugt, „nur“ von sexualisierter Gewalt. Natürlich sind Übergriffe, sind am Ende Vergewaltigung sexualisierte Gewalt. Doch nicht wenige Mädchen und junge Frauen haben sich in Lebensphasen, in denen sie für männliche Aufmerksamkeit, groß-brüderliche und väterliche Liebe besonders empfänglich waren, ehrlich in die Täter verliebt, ja, in eigenen Worten: verdanken dem Täter auch eine Weitung ihres Lebens, Bildung, Erfahrungsräume. Die Soziotope, in denen solcher Missbrauch möglich war und ist, haben solche Verhältnisse häufig durchaus wahrgenommen, aber sie unter ganz anderen Gesichtspunkten bewertet: Ja, auch zeittypisch, als Selbstverständlichkeit, als Jugendsünde beider Beteiligten, als Verführung durch eine Lolita. Das begegnet mir bis heute in der Evangelischen Kirche: “Das Mädchen, die junge Frau, war und ist doch selbst dran schuld!”


Wer über sexualisierte Gewalt und andere Formen des Missbrauchs in der evangelischen Kirche sprechen will, der muss über die Männer sprechen, und darum auch über männliche Schuld. Schuld hat mindestens eine juristische, eine soziologische, eine psychische und eine theologische Dimension. Die Schuldabwehr der Täter und ihres Umfeld, auch die der Gemeinden, die nichts mitbekommen haben wollen, zum Teil bis heute, greifen auf diese Dimensionen zurück:

Juristisch: “Das ist ja alles längst verjährt! Das war damals noch nicht strafbar! Überhaupt waren die Maßstäbe damals doch ganz andere!” Hier muss man deutlich auch mit dem Strafrecht im Gepäck widersprechen. Das Gesetz war der gesellschaftlichen Ächtung jahrzehntelang voraus.

Soziologisch: “Er konnte ja nicht anders. Wir konnten ja nicht anders. Von ihm hatten wir das nie erwartet. Sicher man hat Gerüchte gehört, aber den Pfarrer darauf ansprechen? Nein, das ging nicht. Er war doch eine Respektsperson. Und wie er sich für die Gastarbeiter eingesetzt hat! Wie er der Stasi die Stirn geboten hat! Und seine arme Frau, nein, die wollte man ja nicht mit hineinziehen. Sie hatte es ja ohnehin schwer, so ganz im Schatten ihres Pfarrergattens. Und die Kinder erst! Was hätten auch die Leute gesagt!”

Psychologisch: “So war er manchmal halt. Er hatte schon eine komische Seite, dann wurde es plötzlich sehr ernst bei ihm. Sünde, wenn er über die Sünde gepredigt hat, da wurde mir damals schon ganz anders. Da wurde es schwer. Er konnte auch leicht aufbrausend werden: Unterstützt ihr mich denn nicht! Ich kämpfe mich hier ab und ihr seid nur am Bremsen! Seht ihr denn nicht, was ich aufbaue, was wir gemeinsam schaffen können?! Bemerkt ihr nicht, wie erschöpft ich manchmal bin, wie ich eure Zuneigung brauche, eurer Liebe bedarf. Ich will mich euch verletzlich zeigen. Ich bin doch auch nur ein armer Mann.”

Theologisch: “Ich trage hier das Kreuz. Wir alle müssen unser Kreuz auf uns nehmen. Ich bin ein Sünder, das ist wahr. Aber Jesus vergibt mir. Er vergibt auch dir. Er vergibt dir dein Begehren. Sex ist nichts für das man sich schämen müsste. Er vergibt uns ganz bestimmt. Komm her, ich tröste dich.”

Wir müssen, davon bin ich überzeugt, über männliche Macht und männliche Machtausübung sprechen. Den männlichen Drive, sich Jünger und Jüngerinnen heranzuziehen, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben, Zirkel zu bilden, regelbasierte Gemeinschaften zu erfinden und zu schaffen, die schützen. Auch den männlichen Zug, sich Frauen nach den eigenen Vorstellungen zu bilden, heranzuziehen, väterlich einzuwirken. Hier tauchen sie auf, die typisch evangelisch-bildungsbürgerlich, auch reformpädagogisch geprägten Täterprofile und Tatkontexte: Vom George-Kreis bis hin zur Odenwaldschule, vom Evangelischen Kirchentag bis zur Jungen Gemeinde, von der Nachhilfe-Stunde im Pfarrhaus bis zum Theologieprofessor und seinem Schülerkreis.

Und wir müssen über Kanäle der Sexualität sprechen: Über verkappte und versteckte Homosexualität, die gefährlich werden kann. Auch in evangelischen Kontexten. Auch über Pädophilie. Über psychische und geistige Beeinträchtigungen. Darüber, dass Täter nicht selten zuvor auch Opfer waren. Von sexualisierter Gewalt und von Gewalt in einem umfassenden Sinne, in ihrem eigenen Elternhaus, im Krieg vielleicht, in der Heimerziehung.

Wir müssen auch über die Zeitgebundenheit sexualisierter Gewalt sprechen, denn sie verändert sich. Die Evangelische Kirche und auch die katholische müssen – und können – zur Kenntnis nehmen, dass der Missbrauch in ihren Institutionen nicht singulär ist, sondern Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Das sich darüber hinaus gewandelt hat.

Der Missbrauch in der Evangelischen Kirche unterliegt Moden, findet Erscheinungsformen nicht jenseits, sondern ganz mittig im Missbrauch, wie er sich auch in anderen gesellschaftlichen Tatkontexten ereignet. Weil die Kirche Teil an der gesellschaftlichen Veränderung hat, ist sie für Missbrauch nicht immun – siehe die Liberalen unter den Tätern vor allem in den 1960er bis 80er Jahren. Aber sie ist ihm auch nicht ausgeliefert. Dass die evangelischen Kirchen heute deutlich weiblicher sind als noch vor wenigen Jahren und Jahrzehnten macht einen Unterschied. Heute gibt es Großväter wie Gianni Jovanovic. Zugleich gibt es neue Formen sexualisierter Gewalt: Online-Foren und die Verbreitung von Kinderpornographie sind digitale Tatorte. Und auch die sog. „KI“ mit ihren Möglichkeiten, Frauen und Opfer ganz nach den eigenen Wünschen zu gestalten, spielt männlicher sexualisierter Macht in die Hände.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Gemeinde,

in den Vorgesprächen für diesen Vortrag haben wir verabredet, dass ich zum Schluss meines Vortrags auch auf die männliche Spiritualität eingehen werde. Ich habe dem gerne zugesagt, weil ich mich seit meinem FSJ vor 16 Jahren mit männlicher Spiritualität beschäftige. Damals stellte mir mein FSJ-Mentor das Werk von Richard Rohr vor. Auch zu meinen Studienzeiten und bis heute beschäftigt mich die Frage nach einem authentischen Glauben von Männern.

Ich habe darum gleich nach einem der Telefonate ein Buch von Richard Rohr aufgeschlagen und stolperte gleich im ersten Absatz, den ich las, über den Namen Jean Vanier. Vanier war Gründer der “Arche”. Zu dem Zeitpunkt, da ihn Rohr zitierte und als gutes Beispiel heranzog, war noch nicht bekannt, was erst kurz vor und nach seinem Tode 2019 bekannt wurde: Dass er selbst mehr als 20 Frauen sexuell missbraucht hat und das Missbrauchs-System seines Mentors und “Arche”-Mitbegründers Père Thomas über Jahrzehnte gedeckt hat. Und das bringt mich nun zur Bibelpassage, der die Überschrift unseres heutigen Gottesdienstes entnommen ist (Jeremia 23, 9-32). Da heißt es:

„Ich [Gott] sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie“.

Wir sind schnell dabei, Missbrauchstäter als gottlose Propheten zu bezeichnen. Wie könnte Gott ausgerechnet sie gesandt haben? Das Perfide ist aber, dass sie nicht nur als gottgesandt erscheinen, sondern häufig genug – selbst in den Augen der Betroffenen – geistliche Vorbildgestalten waren und sind. Das ist der effektivste Täterschutz, den man sich vorstellen kann.

Es sind Propheten, die den Menschen nach dem Mund reden, ja, aber sie sagen auch gute Worte. Worte, mit denen sie sich das Vertrauen der Betroffenen erschlichen haben, und das Wohlwollen der umgebenden Gemeinde. Worte, die nicht per se schlecht sind. Wir kommen nicht weiter damit, sie einfach als falsche Propheten abzustempeln und damit ihre Vergehen als etwas uns Fremdes von uns zu weisen. Das perfide ist, dass nicht wenige Täter tatsächlich auch Gutes bewirkt haben, dass sie aus guten Gründen angesehen waren und verehrt wurden, dass sie das Wort Gottes treulich ausrichteten – und trotzdem zu Tätern wurden.

Unsere Bibelpassage stellt das Gericht und die Bekehrung ganz Gott anheim. So ist es würdig und recht. Aber: Es liegt auch an uns, uns klug zu machen, die Muster des Missbrauchs peu á peu zu durchschauen, uns jedenfalls nicht unwissender zu stellen, als wir sind. Es geht am Ende auch um eine geistliche Unterscheidung, was von der Lehre der Propheten uns gut und brauchbar und bleibend wichtig ist und was der Abkehr bedarf. Was auch heute und in Zukunft nur gut kontrolliert und mit skeptischem Blick Teil unserer Tradition bleiben darf.

„Darum ist ihr Weg wie ein glatter Weg, auf dem sie im Finstern gleiten und fallen; denn ich will Unheil über sie kommen lassen, das Jahr ihrer Heimsuchung, spricht der HERR.“

Wir brauchen Licht. Der Missbrauch ist eine Wunde in der evangelischen Kirche, an die noch viel mehr Licht und Luft heranmuss. Auch das Licht der Öffentlichkeit. Besonders das Licht der Öffentlichkeit. Landeskirchen müssen mit ihnen bekannt gewordenen Fällen in Rücksprache mit den bekannten Betroffenen transparent umgehen und sollten in der Öffentlichkeit kommunizieren, wo und wie Täter eingesetzt waren. Nur so können sich weitere Betroffene ermutigt fühlen, sich zu melden, um auf den nach wie vor beschwerlichen Wegen in Staat und Kirche Gerechtigkeit zu suchen. Kirchenmitglieder sollten genau das einfordern.

Ein „Jahr der Heimsuchung“ wird das kommende Jahr 2024, dafür muss man kein Prophet sein, für die evangelische Kirche werden. Ja, muss es werden, wenn es wirklich einmal „gut“ werden soll.

Ich freue mich auf Ihre Fragen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

Was soll(t)en wir jetzt sagen? – Was sollte die Kirche jetzt sagen?

Diesen Vortrag habe ich am 18. November 2023 bei der Fachtagung Friedensethik “20 Monate Krieg in der Ukraine” in Halle (Saale) gehalten. Die Tagung wurde vom Reformierten Kirchenkreis der EKM in Zusammenarbeit mit dem Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum und der Theologischen Fakultät der MLU Halle-Wittenberg durchgeführt.

Für die Veröffentlichung auf dem Blog habe ich den Text ein wenig zusammengekürzt, vor allem in der Einführung, die doch stark kontextuell auf das Vortragssetting zugeschnitten war. Die Ausführungen zum friedensethischen Diskurs sind unverändert. Ich habe Links zu den erwähnten Texten und Reden im Fließtext ergänzt.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung, die ich sehr gerne angenommen habe. „Theologe und Christ“ sind die „Erinnerungen und Bekenntnisse“ des großen Hallenser Theologieprofessors Martin Kähler überschrieben. Das wichtigste Wort in diesem Titel ist, wenn ich mich richtig erinnere, das „und“. Sie haben mich eingeladen, um „eine journalistische Perspektive auf die Rolle der Kirchen“ zu Ihrem Tagungsthema einzuholen. Ich bin Journalist und Christ oder Christ und Journalist, mindestens jedenfalls, neben anderen Selbst- und Fremdzuschreibungen.

Ich befasse mich mit der aktuellen Kirchenpolitik im deutschsprachigen Raum. Meine Schwerpunktthemen sind die Digitalisierung in den Kirchen, Kirche und Rechtsextremismus und sexualisierte Gewalt und anderer Missbrauch in der Evangelischen Kirche. Als Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“ befasse ich mich zwangsläufig auch mit weiteren gesellschaftlichen und politischen Themen, also beispielsweise auch mit Sozial- und Gesellschaftspolitik, der Religionspolitik im engeren Sinne, dem Islam in Deutschland, der Klimakrise und aktuellen Kriegen .

Am 25. Februar 2022 stiegen wir in unserem kleinen Online-Magazin in die Berichterstattung zum Ukraine-Krieg ein mit einem Podcast, den ich noch am Abend des 24. Februars mit der katholischen Theologin und Ostkirchenexpertin Regina Elsner aufgenommen hatte. Darin befragte ich sie nach der Rolle der Kirchen im Konflikt, der am Morgen desselben Tages erneut zu einem akuten Krieg geworden war. Seitdem sind insgesamt 58 Beiträge zum Ukraine-Krieg in der Eule erschienen. Davon sind 26 Ausgaben unseres wöchentlichen Newsletters „Links am Tag des Herrn“, in dem wir auf Inhalte anderer Medien hinweisen und diese kritisch einordnen. Mit Regina Elsner habe ich im Dezember 2022 erneut für unseren Podcast gesprochen. Ihre scharfe Kritik an der Religionspolitik der Regierung Selenskyj erschien auch in schriftlicher Form. Außerdem führten wir Interviews mit der jungen ukrainischen Kirchenmusikerin Dariia Lytvishko, dem ehemaligen Pastor der evangelisch-lutherischen St. Katharinenkirche in Kiew, Ralf Haska, mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und ein weiteres Podcast-Gespräch mit Judith Königsdörfer vom Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum und damals noch im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Die junge ukrainische Journalistin Maria Karapata berichtete für uns vom Alltag des Krieges in Kiew. Auch im Gespräch über Dorothee Sölle mit der Jenenser Systematikerin Sarah Jäger ging es um den Ukraine-Krieg. Es lässt sich als Interview im Magazin finden und auf YouTube als Video im Rahmen unseres Projekts „WIDERSTAND! Dorothee Sölle und der Osten“, das wir in Partnerschaft mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in diesem Jahr durchführen.

Besonders möchte ich Sie auf die friedensethischen Interventionen von Michael Haspel und des Mennoniten-Pastors Benjamin Isaak-Krauß in der “Eule” hinweisen, die im März 2022 erschienen sind, und an Aktualität nichts eingebüßt haben. Wenn Sie dann noch über den ein oder anderen Artikel von mir über den friedensethischen Diskurs oder meine flammende Verteidigung der aktuellen EKD-Ratsvorsitzenden anlässlich ihrer Reformationstagspredigt 2022, oder vor allem die Berichte über die schwierige Ökumene mit dem Moskauer Patriarchat (hier, hier & hier) stolpern, wäre ich hoch erfreut. Hier endet der Werbeblock.

Allerdings handelte es sich bei diesem Überblick nicht allein um Werbung, sondern auch um ein inhaltliches Statement: Wer Konflikte wie den Ukraine-Krieg verstehen will, muss auf die Expertise und die Erfahrungen zahlreicher Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen zurückgreifen. Das dauert und macht Mühe. Konfliktverständnis bedarf der diskursiven Gruppenarbeit und muss reifen. Das trifft auf alle Akteur:innen zu, auf Privatleute wie auf Kirchenleitende, auf Theolog:innen wie auf Journalist:innen.

Was ich als Journalist kommuniziere, sollte nicht einfach ziemlich sicher richtig sein, es muss stimmen. Sonst setze ich meine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Die aus meiner Perspektive wichtigsten Werkzeuge eines Journalisten sind: 1. Glaubwürdigkeit, 2. Neugier, 3. Expertise zu jenen Themen, zu denen ich mich äußere, und 4. das kreative Vermögen, Ausdrucksformen zu finden, die Leser:innen, Hörer:innen oder Zuschauer:innen gut verstehen können.

Im Werkzeugkasten einer Theologin, die sich in aktuelle Debatten einschaltet, könnten sich befinden: 1) religionshermeneutische Expertise 2) eine umfassende historische Orientierung 3) Textkompetenz 4) ethische Urteilskraft im Horizont der eigenen religiösen Tradition.

Was aber findet sich im Werkzeugkasten einer Christ:in, die sich mit Kriegen und Krisen konfrontiert sieht? Haben Christen überhaupt etwas, sogar etwas Spezifisches, im Gepäck, das bei der Bearbeitung einer Krise wie dem Ukraine-Krieg helfen kann?

Als Journalist und Christ muss ich sie leider enttäuschen. Ich kann Ihnen die mir gestellten Fragen nicht beantworten: Was soll(t)en wir jetzt sagen? Was sollte die Kirche jetzt sagen? Ich bin für die Beantwortung dieser Fragen weder mandatiert noch mit der erforderlichen Expertise in friedensethischen, ökumenischen oder sicherheitspolitischen Fragen ausgestattet. Was ich Ihnen heute anbieten kann, ist meine journalistische Perspektive auf drei Problemlagen der kirchlichen Debatten im Kontext des Ukraine-Krieges – und zum Schluss eine Ermutigung.

1) Sprecherpositionen klären

Bis hierhin habe ich eigentlich nichts anderes versucht, als meine eigene Sprecherposition zu klären. Nicht nur für mich selbst, sondern coram publico, vor aller Welt. Das lege ich Ihnen und den kirchlichen Akteur:innen für die weitere Debatte ans Herz.

In der Evangelischen Kirche ist viel kaputt gegangen und ihr Bild in der Öffentlichkeit hat Schaden genommen, weil es an klaren Sprecherpositionierungen im Kontext der Auseinandersetzung zum Ukraine-Krieg gefehlt hat – und zum Teil bis heute fehlt. Das hat systemische Gründe, die viel gerühmte evangelische Vielfalt gehört sicher dazu, aber gelegentlich ist es einfach auch kommunikatives Unvermögen.

Im Falle des Ukraine-Krieges finden Stellungnahmen von Papst Franziskus ebenso Gehör wie die Meinung der Theologin und damaligen BILD-am-Sonntag Kolumnistin Margot Käßmann. Vor allem aber die Kriegspropaganda des Moskauer Patriarchen Kyrill und seiner Russisch-Orthodoxen Kirche und die religiösen Geschichtsdeutungen Vladimir Putins.

Sie werden der Verantwortungsgemeinschaft der Christen im Allgemeinen zugeordnet. Kirchen und Christen werden für Äußerungen und das Handeln anderer Menschen in Mithaftung genommen, die sich als Christen in der Diskussion und im konkreten Kriegshandeln positionieren. Zum Beispiel mit der Segnung von Panzern. Kommunikativ befinden sich die Kirchen also in der Bringschuld, in der Defensive, in Rückenlage. Von ihnen wird mindestens eine glaubwürdige Distanzierung von der Kriegspropaganda und vom Gottesdienst feiernden russischen Präsidenten erwartet.

Weil Kriegszeiten nun einmal Zeiten extremer Polarisierung sind und Medien ihren Eigengesetzlichkeiten folgen, werden die Distanzierungsforderungen heftiger und verfehlen durchaus gelegentlich die richtigen Adressaten. Sie finden statt in unserer zunehmend säkularisierten und auch religiös pluralen Gesellschaft und werden deutlich weniger durch Religionskompetenz in den Medien begleitet als noch vor wenigen Jahren.

„Was soll(t)en wir jetzt sagen? – Was sollte die Kirche jetzt sagen?“ weiterlesen

Bericht Frühjahr 2023

Das Bohei um den neuen Stuckrad-Barre-Roman hat mich diese Woche bewogen, ein Buch von Rainald Goetz zu bestellen, sogleich zu lesen, mich von seinem „loslabern“ durchaus auch mitreißen, jedenfalls amüsieren zu lassen. Die Regeln der klassischen Rezension, die dieser Text nicht ist, geben vor, mit einer Inhaltsangabe oder einer gefälligen Zusammenfassung des Verhandelten aufzuwarten, „loslabern“ soll ein Bericht des Herbst 2008 sein, wir erinnern uns: Bankenkrise.

Als Krisenbewältigungsroman in Gedankenfetzen, Poesie und bissigen Schilderungen, mit mir kann man es ja machen, ist das Buch in unseren heutigen multiplen Krisen eine wertvolle Lektüre, die umso unterhaltsamer ist, weil sich ja, außer ein paar Regulierungen im Bankensektor, einer sehr aufwendigen Stützung von Banken, Staaten, Haushalten, im Nachgang der als groß empfundenen Bankenkrise, Lehman Brothers, wir erinnern uns, nichts geändert hat, die Welt also nach nur kurzer Zeit absehbar in die nächste und sowie von einer aktuellen in eine weitere, kommende Krise hineinrauscht.

„Wenn also Krise ist“, schreibt Goetz, „wenn das so ist, dass die Welt Kopf steht, täglich neu, dann will auch ich, mein lieber Lenz, den Kopf nicht länger in den Bottich oder in die Erdbeerbeete, den Harz, den harten, oder in die Ilmenau, die milde, stecken oder hängen lassen, sondern ihn erheben und dir und dem Rest der Welt ins Gesicht der Herrlichkeit des Wahnsinns blicken, den wir hier die Gegenwarten dieser Tage heißen dürfen“.

Das ist, finde ich doch, zweifelsohne schön geschrieben und von solchen wunderbaren Sätzen, auf die man von alleine sicher nicht gekommen wäre, die aber, wenn man sie so liest, unmittelbar Sinn ergeben, sodass man sich sagt: Ja, genauso, oder genau so, kann, ja muss man das sagen, gibt es in dem Buch noch eine Reihe weiterer, die Zeilen dazwischen sind auch nicht verschwendet. Alles in allem eignet dem Buch eine herrliche, so würde es Rainald Goetz, der Popautor der 2000er Jahre, eventuell sagen, Unfertigkeit, die in diesen unseren Tagen der maximalen Überzeugtheit von den eigenen Überzeugungen wohltuend mundet.

Wenn Sie sich, liebe Leser:in, wie ich auch, in den digitalen Lebensströmen tummeln, wird ihnen das Desaster des Elon Musk mit der Mikroblogging-Plattform Twitter, dem Marktplatz des Internets, nicht entgangen sein, entweder im Modus der teilnehmenden Beobachtung oder der abständigen Verwunderung oder in einem anderen, vielleicht gar belustigten Gemütszustand. Der Eigentümer, dem die Plattform aber eigentlich nicht gehört, weil er den Kauf, wie es sich gehört, finanziert hat, wie man so schön sagt, das heißt durch Kredit und quere Liquidität ermöglichte, führt sich nicht nur wie ein zehnjähriger Bengel mit Lizenz für unbotmäßige Scherze auf, die man im Internet gewohnheitsmäßig Troll nennt, wie die Sagengestalt, aber halt in echt, sondern ermöglicht es den sog. Blaubehakten, also zahlenden, aber nicht verifizierten, nicht-beglaubigten Nutzer:innen „seiner“ Plattform, ihre Gedanken nicht, wie zuvor unter allen Teilnehmer:innen des Spiels verabredet, in den engen Grenzen von 280 Zeichen und einer Reihe von Tweets, die zu einem sog. Thread, Faden, miteinander verbunden sind, äußern zu müssen, Twitter Blue Abonnenten dürfen bis zu 4000 Zeichen verwenden, das macht, wie man nun alltäglich beobachten kann, den ganzen Unterschied zwischen Genie und Wahnsinn aus, dem Forschende seit Jahrhunderten auf die Schliche kommen wollen. Twitter war schon immer die Plattform der Rechthaber und Rechthabenden, aber sie hatte Stil.

Musk verhunzt nun also auch die letzte große Publikumsmaschine des Netzes, die nicht schon vollständig von angehobenem, zielgerichtetem Gelaber in Videos, Sound und Texten überrannt war, auf der zwischen dem ganzen Zeug, das natürlich auch vor der Übernahme durch den Weltraum- und E-Auto-Troll schon ein Überangebot von Content, eine Beballerung mit Ansprüchen, Forderungen, Aufmerksammachungen darstellte, so etwas wie ein normales oder eben dezidiert überhaupt ganz unnormales, weil zielloses, quatschiges Loslabern möglich war.

Mit sorgenvollem Blick wende ich also denselben von der Heimatplattform ab in Richtung der selbstverkündeten Qualitätspresse, hin zum Bücherschrank, hin auch zu jenen Magazinen, in denen verhandelt wird, was Religion und Gesellschaft beschäftigt oder doch zumindest beschäftigen sollte, bin aber sogleich geschockt und auch gehemmt, ob der schieren Masse der mir dort engegenschwappenden Buchstaben, auch wenn sie in einer schönen Schrift dargeboten werden, der Font ist wohl gewählt, der Fond vermag nicht immer zu schmecken, vor allem, wenn die Autor:innen ihr eigenes Süppchen kochen. Wo? Wo bin ich da als Leser? Das frage ich mich dann schon. Schreiben ist ja auch Denken und sich beim Denken zuschauen lassen, aber ein wenig fertiger mit den eigenen Gedanken könnte man schon sein, bevor man Leuten so riesige Riemen zu irgendwelchen, womöglich vor allem den eigenen, Partikularproblemen zumutet.

Ich habe vor Kurzem eine Akademieveranstaltung auf YouTube nachvollzogen, wie man jetzt so schön zum Videogucken sagt, in der es um den Synodalen Weg der katholischen Kirche ging, auf dem Podium saßen die Chefin des Wegegangs, Irme Stetter-Karp, und eine profilierte Beobachterin, Christiane Florin vom Deutschlandfunk, aber zunächst, statt an das Podium zu übergeben, auf das ich mich ankündigungsgemäß freute, so wird es ja auch den dort tatsächlich im Fleische anwesenden Gästen der Veranstaltung gegangen sein, meine ich, sprachen zwei Herren, der eine war der sog. Gastgeber, der andere hatte wohl das Geld oder war anderweitig vom Fach, fast eine halbe Stunde sprachen die Beiden und ich war sehr dankbar, dass ich die Veranstaltung eben nur auf YouTube nachvollzog, wie man jetzt so schön das auf dem heimischen Sofa Nach-Schauen nennt, so dass ich die beiden Herren, nachdem ich ihnen je eine Bewährungsprobe von wenigen Minuten zugestanden hatte, eiskalt überspulen konnte, dann war ich in der Gesprächsrunde mit den zwei Frauen angekommen, deretwegen ich ja auf das Video geklickt hatte, einer Empfehlung auf Twitter folgend, und das Gespräch der Beiden wäre sicherlich noch spannender gewesen, hätte nicht auch diesen Dialog, den sie selbstredend gut auch miteinander ohne Hilfe eines Dritten hätten führen können, ein weiterer Mann mit überlangen, sich im Quadrat quälenden Fragen unter-brechend aufgehalten.

Dann habe ich mich, es folgt jetzt ein schamloser Werbeblock, mit Dorothee Sölle befasst, weil wir bei der Eule, gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, die ihren wirklich schönen Sitz in der EKD-Hauptstadt Lutherstadt Wittenberg einnimmt, ein Projekt machen, das sich mit Sölle & dem Osten beschäftigt. Ich habe also die Augen und Ohren offen gehalten, online und offline, auch in mein Bücherregal geschaut, in dem aber außer der „Stellvertretung“ und „Lieben und Arbeiten“ so auf Anhieb gar nix von Sölle zu finden war, so dass ich diesem Mangelzustand in geordneter, aber fiskalisch sensibler Weise Abhilfe schaffen musste, vor allem aber habe ich mit Menschen gesprochen, die Sölle erlebt haben oder sie erforschen, und das war und ist alles sehr spannend, aber nicht in dem Sinne, wie es seit einigen Jahren in der evangelischen Kirche gemeint wird: „spannend“ heißt da, hm hm ja ja, aber daraus wird eh nichts, sondern wirklich interessant und zum Teil auch bewegend.

Und da sagte mir Sarah Jäger, die Juniorprofessorin für Systematische Theologie/Ethik in Jena an der Friedrich-Schiller-Universität ist, in dem kalten Seminarraum mit der Baustelle vor den Fenstern, dass sie an Sölle schon, trotz aller Wertschätzung für ihre Ernsthaftigkeit, die wir Enkel uns bei ihr abschauen dürften, ihre überbordende Entschiedenheit in politischen Sachfragen kritisiere, die mir bei meinen minimalen Re- und Erstlektüren erst gar nicht aufgefallen war, die ich aber dann im Nachhinein auch in „Lieben und arbeiten“ in einigen Passagen gefunden habe, die man heute und wenn man ehrlich ist, wohl ein wenig differenzierter anginge, die man jedenfalls heute so nicht durchhalten müsse, meinte Sarah Jäger, weil eine fragendere Haltung, die sich nicht immer schon sicher ist, sowieso auch glaubwürdiger sei. Und da gebe ich ihr vollkommen Recht.

Dann habe ich mich auch an mich selbst erinnert, wie ich den Digitalisierer:innen in der Evangelischen Kirche im Osten vor ein paar Wochen eine dem Vernehmen nach gefühlige Erbauungspredigt gehalten habe, die ungefähr so ging: Man solle doch auch mal eskalieren, jedenfalls sich nicht so haben, nicht so besorgt sein, mehr Fragen stellen, Sie merken schon, was ich meine, woraufhin ich den Abendbrottisch deckte, mich mit den Meinigen an denselben setzte, Alle Guten Gaben, alles was wir haben, kommt, oh Gott, von Dir, wir danken Dir dafür, betete und alsdann beherzt zulangte, denn: Die Wahrheit ist immer konkret.


Das Foto zeigt das Kunstprojekt “Gaia” in der Frauenkirche Dresden.

Vielen Dank noch einmal an Lea für die schweizerische Schoki.

[Reupload] Wie hältst Du es mit dem Sterben?

Von April 2013 bis Februar 2017 sind viele Artikel von mir auf theologiestudierende.de erschienen. Im Rahmen des Projektes habe ich angefangen, meine Ostdeutschland-Kolumne “Unter Heiden” zu schreiben, die ich inzwischen höchst unregelmäßig in der Eule fortführe. Doch anders als die “Unter Heiden”-Artikel habe ich den Großteil meiner theologiestudierende.de-Artikel nicht gleichzeitig (oder mit Verzögerung) hier auf dem Blog gepostet. Nachdem das Gruppenblog vor einigen Wochen vom Netz gegangen ist, sind diese Artikel nun nicht mehr einfach online zu erreichen.

Das ist nicht schlimm. Eine Menge der Artikel sind “Moment mals”, also in der Reihe der Montagskommentare des Projekts erschienen. Oder “Lesenwerts”, kleine Vorgänger der #LaTdH, mit denen wir im Rahmen der sommerlichen Themenmonate zu “Krieg und Frieden” und “Islamischer Theologie” Lesetipps von anderswo zusammengetragen haben. Um einige Artikel ist es aber, finde ich, schade. Vor allem, weil ich noch heute mit Verlinkungen gerne auf sie zurückkomme. Man muss sich ja nicht ständig wiederholen.

Ein paar dieser Artikel, darunter die längeren Essays, werde ich gelegentlich und absolut unregelmäßig, wenn es mir passend erscheint, hier auf meinem Blog erneut hochladen. Und zwar nahezu unverändert zur ursprünglich veröffentlichten Version. Was auch heißt, dass seit Abfassung mehrere Jahre des Lernens und Schreibens vergangen sind. Alle Texte sind unzureichend, aber so ist das halt.


John William Waterhouse – Sleep and his Half-Brother Death (public domain)

Wie hältst Du es mit dem Sterben?

vom 20. Juni 2015

Friedrich Wilhelm Graf, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik an der LMU München, ist ein streitbarer Zeitgenosse. Mit sichtbarem Genuss geht er immer wieder daran, die bunten Seifenblasen kirchlich-öffentlicher Meinungen platzen zu lassen. Dabei schlägt er auch schon mal unter die Gürtellinie, was von Männern in seinem Alter fast schon erwartet werden kann. Mit so einem ist vielleicht nicht immer gut Kirschen essen, aber doch zu scherzen.

Im MERKUR – Ausgabe vom Mai diesen Jahres [2015] – meldet sich Graf in der Manier eines öffentlichen Theologen unter dem Titel „Apodiktische Ethik mit Lügen – Die deutschen Kirchen und der ärztlich assistierte Suizid“ mit dem Anliegen zu Wort, die recht eingleisig verlaufende Debatte um das richtige Sterben in Politik und Kirchen zu beleben. Und nicht wenige seiner, aus der selbstgewählten Perspektive des bürgerlich Linksliberalen und protestantischen Theologen zugleich formulierten, Einsprüche und Richtigstellungen wurden in der bisherigen Debatte tatsächlich bisher vermisst. (Sein Aufsatz steht noch bis Ende Juli zum kostenlosen Download bereit.)

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