Unter Heiden (9): Jesus war Ossi

Ich möchte Euch von einem Land erzählen. Einst war es die Heimat zahlreicher bedeutender Kultstätten. Es brachte Töchter und Söhne hervor, die den Weltenlauf prägten. Es lag schon immer zwischen unterschiedlichen Kulturen, an der Grenze des Reiches. Es war schon immer Provinz. Aus einer seiner Kleinstädte stammt ein Revolutionär und Gottesmann. Er hat das Volk und seine Religion gespalten. Das Land wurde besetzt gehalten und erholt sich nur langsam von diesem Schock. Durch die Besetzung hat es seine einstmals große Bedeutung verloren. Die Hauptstadt des Reiches wurde eine andere Stadt. Dem Land wurde durch die Geschichte übel mitgespielt. Seine Menschen haben den falschen Propheten gelauscht und sich dem Tode angedient. Sie fragen nicht mehr nach Gott. Viele gehen umher, geschlagen und hungrig. Und darüber sind sie zornig geworden und fluchen die Mächtigen und ihren Gott.

Gemeint ist natürlich der Weg am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden. Die Heimat Jesu von Nazareths. Oder?

Jesus stammte aus diesem Zipfel der Welt. Eine solche Herkunft prägt Menschen und so hat sie auch Jesus geprägt. Ganz sicher aber das Bild der Evangelisten, das sie uns von ihm zeichnen. Die bildhafte Gottesrede, die Zuwendung zu den Einfachen und Geringen und die Ablehnung des Mondänen, Städtischen, all das finden wir in den (synoptischen) Evangelien zuhauf.

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Der Nazarener, 1977, Antonio Sicurezza, gemeinfrei

Entfernt man sich einmal von der Betrachtung des historischen Jesus, dann ist auch seine Herkunft aus dieser äußersten Peripherie ein sprachmächtiges Bild. Der Messias stammt eben nicht aus Rom, nicht aus dem Zentrum der Welt, sondern vom Rand. Nicht nur vom Rande der Gesellschaft, sondern ganz wörtlich aus der Provinz. Gott handelt in Jesus also von den Rändern der Gesellschaft her: in randständigen, marginalisierten Menschen.

In die Randgebiete – Jorge Bergoglio

Jorge Bergoglio schreibt in seinem ersten Apostolischen Sendschreiben als Papst Franziskus Evangelii Gaudium: „Jeder Christ und jede Gemeinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir aufgefordert, diesen Ruf anzunehmen: hinauszugehen aus der eigenen Bequemlichkeit und den Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.“ (Quelle) Die „Randgebiete“ sind also wieder in den Blick des Interesses gerückt, wenn auch hauptsächlich nur im Modus der Bedürftigkeit. Auch ihnen soll das Licht gebracht werden.

„Galiläa wird so zum symbolischen Ort für die Öffnung des Evangeliums für alle Völker. Unter diesem Gesichtspunkt ähnelt Galiläa der Welt von heute: gleichzeitige Präsenz unterschiedlicher Kulturen, Notwendigkeit der Auseinandersetzung und Notwendigkeit der Begegnung. Auch wir sind jeden Tag in ein „Galiläa der Heiden« eingetaucht, und in dieser Art von Kontext können wir es mit der Angst zu tun bekommen und der Versuchung nachgeben, Umzäunungen zu errichten, um sicherer, geschützter zu sein. Doch Jesus lehrt uns, dass die Frohe Botschaft, die er bringt, nicht einem Teil der Menschheit vorbehalten ist, dass sie allen mitzuteilen ist. Sie ist eine freudige Verkündigung, die für alle bestimmt ist, die sie erwarten, aber auch für all jene, die vielleicht nichts mehr erwarten und nicht einmal mehr die Kraft haben, zu suchen und zu bitten.“ (Quelle: Angelus-Gebet, Franziskus, 27.1.2014)

Auf der Grenze – Paul Tillich

Nun ist Bergoglio nicht der erste Theologe und Kirchenmann, der auf diese Idee gekommen ist. Paul Tillich bezeichnet sein gesamtes Denken als „auf der Grenze“. Auf der Grenze zwischen zwei Ländern: Deutschland, aus dem er emigrieren musste und den USA, in die er immigrierte. Auf der Grenze zwischen Theologie und Philisophie. Auf der Grenze von Kultur und Religion. Auf der Grenze von Gesellschaft und Kirche. Immer wieder auf der Grenze. Das macht seine Theologie bis heute anschlussfähig an unsere Erfahrungen.

In der Einleitung seines Buches „Religiöse Verwirklichung“ schreibt er „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.“ Und seine kurze Vorstellung für das amerikanische Publikum, die er sinnfällig „Auf der Grenze“ nannte, beendet er mit folgenden Sätzen:

„An vielen Grenzen stehen, heißt in vielerlei Formen die Bewegtheit, Ungesichertheit und innere Begrenztheit der Existenz zu erfahren und zu dem Ruhenden, Sicheren, Erfüllten, das auch zu ihr gehört, nicht gelangen zu können. Das gilt vom Leben wie vom Denken und gibt den hier angedeutenden Erfahrungen und Ideen etwas Fragmentarisches, Tastendes, Ungesichertes. […] Es gibt eine Grenze menschlichen Tuns, die nicht mehr Grenze zwischen zwei Möglichkeiten ist, sondern Begrenzung durch das, was jenseits jeder menschlichen Möglichkeit liegt: Das Gute und die Wahrheit selbst. Vor ihr ist auch unsere Mitte nur Grenze und unser Vollendetes nur Bruchstück.“ (zitiert aus Paul Tillich: Auf der Grenze)

Tillich begreift die Grenze als den Ort der gegenseitigen Befruchtung bisher als gegensätzlich angenommener Ideen und Erfahrungen. Das kann man getrost ganz wörtlich nehmen: Wer einmal seinem nächsten Nachbarn jenseits einer unmittelbaren Landesgrenze begegnet, wird verändert aus solch einer Begegnung hervor gehen. Das Galiläa der Heiden wird bei Tillich also wieder das, was es für die Lehre Jesu selbst gewesen ist. Nämlich ein fruchtbarer Boden für das eigene Denken und Handeln, dass auch die eigene Theologie mehr als nur informiert. Für Jesus waren das wohl die Begegnungen mit Heiden und Ausgestoßenen, für Tillich bedeutete es die Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst, der Psychologie und dem Sozialismus.

Am Rand, dem Ort der Freiheit – Richard Rohr

Ein dritter Grenzgänger, er wurde mir von meinem FSJ-Mentor vorgestellt, ist der us-amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr. Als junger Mann gründete er die Laien-Kommunität „New Jerusalem“, operierte auf der Grenze zwischen traditionellem Katholizismus und charismatischer Bewegung. Heute leitet er das „Zentrum für Aktion und Kontemplation“ in Albuquerque, New Mexico. In Deutschland ist er vor allem als Autor des Enneagramms und als Vorreiter einer christlichen Männerbewegung („Der wilde Mann“) bekannt. Auch er ist, wie Bergoglio, ganz dem heiligen Franziskus zugetan, den er als sein großes Vorbild bezeichnet. Gregory Flannery schreibt in einem Potrait:

„Wenn er [Rohr] davon redet, „im System zu arbeiten, aber am Rand, dem Ort der Freiheit“, dann tritt er damit bewußt in die Fußstapfen des Franziskus. […] „Durch Beobachtung kommt Richard zu seine Gedankengängen. Er liest viel, aber ich glaube nicht, dass er viel über das nachdenkt, was er liest. Er stopft es einfach in sich hinein und es kommt unzensiert zum Vorschein, sobald er vor einem Mikrophon steht. Was er sagt überrascht seine Zuhörer – und ich glaube, es überrascht ihn selbst.“ Teil dieser Überraschungen sind die Quellen, aus denen sich sein Denken speist. Seine Lehre umfasst die ganze Skala vom Zungenreden bis zu C.G. Jung. Er zitiert moderne Psychologie mit gleicher Geläufigkeit wie die Heilige Schrift. Für Richard Rohr bedeutet katholisch „allumspannend“. „Ich sehe meinen Dienst als Versöhnung von Gegensätzen“, sagt er. „Jung gab mir die psychologische Sprache, um das auszudrücken, was Jesus schon immer gesagt hat: Das Unkraut und der Weizen wachsen gemeinsam.“ (zitiert aus Richard Rohr: Der nackte Gott)

An den Satz von der Grenze als Ort der Freiheit erinnere ich mich häufig. Er spendet mir auch Trost, wenn ich auf meine Kirche schaue. In ihr gibt es Platz für jeden, wenn auch nur am Rande. Und vielleicht ist dieser Platz an der Grenze tatsächlich dem im Zentrum vorzuziehen. Rohrs Reden ist durch wirkliche Erfahrung mit wirklichen Menschen geprägt und durch offene Studien allen möglichen Materials. So überrascht er sich gelegentlich selbst. Das wäre uns doch nur zu wünschen.

Was ich meine

„Doch es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind. Hat er in früherer Zeit in Schmach gebracht das Land Sebulon und das Land Naftali, so wird er hernach zu Ehren bringen den Weg am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden.“ (Jesaja 8, 23)

So sehr das Galiläa der Heiden, wo auch immer es sich heute befinden möge, das Licht braucht, so sehr glaube ich, brauchen wir das Galiläa der Heiden. Wieviel hat Jesus von ihm gelernt? Und haben nicht ihre spezifischen Grenzerfahrungen Bergoglio, Tillich und Rohr dazu gebracht, in besonderer Weise sprachfähig zu werden, sodass viele Menschen durch sie ihren Glauben nicht verloren oder gar neu entdeckten?

Mir scheint es so: Wenn unsere Kirche eine Zukunft hat, dann eine unter den Heiden. Ich nenne sie Heiden, weil sie in der Mehrheit – zumindest schon hier in Ostdeutschland – keiner Kirche angehören. Und weil viele von ihnen – auch die Mitglieder der großen christlichen Kirchen – ihren Glauben leben, wie es die Heiden biblischer Zeiten taten, indem sie sich aus dem Angebot etwas Passendes aussuchen. Ich meine das nicht böse, ich sage es mit gewissem Stolz. Manchmal ist es gar nicht so übel, Heide zu sein oder unter den Heiden zu leben.

Und das heißt: Als Christ und Theologe ist man wohl oder übel irgendwie in einer Grenzsituation gefangen, wenn man sich auch nicht in der Mark Brandenburg verlaufen hat. Wenn man schon ein Einsehen in diese Lage hat, dann kann man sie auch bewusst wahrnehmen und den Saft aus ihr herauspressen. Von den Heiden lernen, mit den Heiden leben. Unsere Unterschiede – solche der Herkunft, der Frömmigkeit, der politischen Meinung, des Geschlechts, der Sexualität, des Temperaments, des Stils – sind unsere Pfunde. Mit ihnen müssen wir wuchern.

Bis zum nächsten mal Unter Heiden: Der Osten von A bis Z


Einmal im Monat schreibe ich unter dem Titel Unter Heiden auf theologiestudierende.de über meine ostdeutsche Heimat. Etwas später erscheinen die Artikel hier auf meinem Blog. Es geht um Vorurteile, Lebenserfahrungen und Perspektiven. Es geht um Arbeit, Leben und Glauben.

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