Unter Heiden (15): Balkanroute

Vor ein paar Wochen haben wir das Artwork für Unter Heiden auf theologiestudierende.de geändert. Es zeigt nun nicht mehr einen typisch ostdeutschen Wohnblock, sondern einen Spaziergänger auf dem Weg durch einen kleinen Ort. Der Spaziergänger bin ich und den Ort nennen wir Benzenz. Er liegt in Rumänien und ist deshalb offiziell nach dem rumänischen Luftfahrtpionier Aurel Vlaicu benannt. Nun wird es bei Unter Heiden zukunftig nicht statt um Ostdeutschland und die Heiden auf einmal um Rumänien gehen, sondern weiterhin um die Ränder und das Randständige, für das der Osten und die Heiden Metaphern sind – diesmal nur noch ein wenig weiter ostwärts.

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Benzenz

Wir nennen den Ort Benzenz. Wir, das sind die Deutschen, die nach Benzenz kamen und nun schon wieder gegangen sind. Meine Vorfahren kamen Mitte der 1890er-Jahre aus einem anderen kleinen Ort, Tscherwenka, nach Benzenz. Sie waren lutherische Donauschwaben, die aus jenem Ort in der Batschka, der eine der größten Siedlungen der Donauschwaben war, weiterzogen. Meine Großeltern waren Benzenzer 2. Generation, die beiden ältesten Geschwister meiner Mutter wurden zum Ende des 2. Weltkrieges hin noch in Benzenz geboren.

Nach dem Krieg verschlug es zuerst meinen Großvater über Zwischenstationen und dann, nach der Zwangsarbeit in der Sowjetunion, auch meine Großmutter und die beiden Kinder nach Bischofswerda, einen kleinen Ort in der Nähe der Stadt, in die meine Familie nach ein paar Jahren weiterzog: Dresden. Die Stadt, in der ich und meine Schwester, meine Cousinen, ein Großteil meiner Freunde geboren wurden. In der ich Schulen besuchte, auf denen sich auch ein paar wenige Kinder aus allen Ländern des Herrn wiederfanden. Woher kamen ihre Eltern und Großeltern? Wo waren sie und deren Eltern und Großeltern hin- und wieder weggewandert? Aus welchen Gründen? „Kolonisierung“, wie im Falle der Donauschwaben, oder als Folge von Krieg, Flucht und Vertreibung?

Meine Route führt mich also auf den Balkan, den viele von uns Jüngeren nur in mythischen Erzählungen kennen. Wenn man Balkan hört, dann schwingen alte Geschichten, die Geschichte, mit und eine Menge Vorurteile sicher auch. Und wenn man selbst Balkan sagt? Was ist damit gemeint? Die Länder, die einmal gemeinsam Jugoslawien waren?

Mein Spaziergang durch Benzenz begann wie immer in einem der alten Häuser meiner Familie. Dort lebte 2009 noch ein Cousin meiner Mutter mit seiner rumänischen Frau und einem ihrer Kinder. Außer ihnen gab es wohl noch in ein oder zwei anderen Häusern des Ortes alte Deutsche, die ihre letzten Lebensjahre im Ort verbrachten. Der Weg führte mich in die benachbarte deutsche Kirche, deren Dach endgültig leck geschlagen war, in der sich aber trotz allem zu den großen christlichen Feiertagen eine kleine Gemeinde versammelte. Dazu reist der deutsche Pfarrer an, der ein Gemeindegebiet so groß wie das Saarland betreut.

Mein Weg führte mich weiter vorbei an dem Haus des Teils meiner Familie, deren Namen ich trage. Es gehört seit der Wendezeit nicht mehr uns. Über die Jahre haben mehrere rumänische Familien es wohl meist als Sommerhaus genutzt. Die Jungen, Deutsche und Rumänen gleichermaßen, lebten schon seit den 1970er-Jahren in den Städten. Weiter führt mich mein Weg durch die alte deutsche Siedlung hin zum deutschen Friedhof, der immer Gefahr läuft, ein bisschen zu unordentlich, also ganz undeutsch zu werden.

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Dieser Ruheort sagt viel über das Selbstverständnis der Deutschen im Ort. Irgendwo in Rumänien gibt es also einen Ort mit vielen leeren und ein paar von Rumänen und Roma bewohnten alten Schwabenhäusern und einem Friedhof, auf dem, bis auf ganz wenige Ausnahmen aus jüngster Zeit, Grabsteine mit deutschen Namen stehen. Da liegen begraben: Schmidts, Krumes‘, Albrechts, Hellermänner, Greifensteine. Elisabeths, Katharinas, Sophias. Karls, Daniels, Adams und Philipps, viele Philipps. Eines der beiden größeren Familiengräber gehört bis heute der Familie Greifenstein. Der älteste noch lebende Cousin meiner Mutter hat erst vor ein paar Jahren den Grabstein des Mehrgenerationengrabs erneuern lassen. Von den Grabsteinen schauen mich die Namen meiner lebenden Onkel, Tanten, Cousinen und mein eigener an.

In den gut 90 Jahren, die es in Benzenz deutsches Leben gab, haben meine Vorfahren und Verwandten (Natürlich sind wir alle verwandt. Meine Großeltern waren entfernte Cousins.) Aufbauzeit, Blüte und langsames Dahinscheiden erlebt, mehrere Regime- und Regierungswechsel bejubelt oder erlitten, Kinder zur Welt gebracht, Alte und Kranke gepflegt und wenn es an der Zeit war, zu Grabe getragen.

Und man kann sich dieses Benzenz‘ noch heute als eines glücklichen Fleckchens Erde erinnern. Mit Geschichten und Liedern, Festen und Kinderlachen, Anekdoten bis in die Generation meiner Mutter hinein. Dass es ihnen dort so gut ging, wird auch daran gelegen haben, dass sie vor Ort ihre eigene kleine Parallelgesellschaft bildeten: mit eigener Kirche, eigener Schule, eigenen Sitten und Gebräuchen, eigentümlicher Sprache und Speisekarte und mit einem eigenen Friedhof. Den gibt es noch immer.

Die Urenkel und Ururenkel derjenigen, die aus Tscherwenka nach Benzenz kamen und dort, dank eines großzügigen Kredits der deutschen Bank aus Herrmanstadt, ihr Leben noch einmal neu begannen, leben heute fast alle in Deutschland, mancher in Österreich, noch weniger in den USA und ein paar ganz wenige sind geblieben, weil sie Liebe und Arbeit gefunden hatten oder alt geworden waren. Sie sind geblieben in diesem Land Rumänien, mit dessen Schicksal mich die Geschichte meiner Familie verbindet. Einer Familie, die sich immer als deutsch und kaum jemals als rumänisch verstanden hat.

April 1941

Ich schreibe heute im April 2016 nicht ohne Grund über meine Balkanrouten. Und auch nicht ohne Anlass. Am heutigen 6. April jährt sich der Beginn des Balkanfeldzugs zum 75. Mal. Der Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland ist ein besonderer aus mindestens drei Gründen. Erstens wird er gern vergessen, tritt gegenüber dem Überfall auf Polen, dem „Blitzkrieg“ gegen Frankreich und vor allem dem Russlandfeldzug zurück. Zweitens, weil er anders als die genannten nicht von langer Hand geplant wurde. Es ging auf dem Balkan weder um Rache noch um „Lebensraum“.

Den Balkanfeldzug führten deutsche Truppen als Gefälligkeit für das faschistische Italien Benito Mussolinis. Der von Hitler langersehnte Russlandfeldzug wurde verschoben, an ihm sollten die Italiener mit neu gefundener Bündnistreue später teilnehmen. Die Wehrmacht hat Jugoslawien damals überrannt, Widerstand regte sich erst nach dem formalen Ende des Operation, es begann der Partisanenkrieg. Dieser ist der dritte große Unterschied zu anderen Kriegsschauplätzen des 2. Weltkrieges. Kaum irgendwo sonst trafen die deutschen Besatzer auf so hartnäckigen Widerstand von Guerillatruppen, die sie mit wahnsinnigen Massakern an der Zivilbevölkerung „bekämpften“.

Im Balkanfeldzug kämpften die Deutschen an der Seite der Italiener und mit ihnen kämpften die zahlreichen sog. Volksdeutschen, die von der Besatzung alsbald stark profitierten. Ohne die Volksdeutschen hätte die systematische Vernichtung von Juden und Roma auf dem Balkan überhaupt nicht umgesetzt werden können. Die Deutschen warfen den Partisanen Feigheit ob ihrer Kriegsführung vor. Kein Vergleich zur Niedertracht der Deutschen, die die eigenen Nachbarn der Vernichtungsmaschinerie auslieferten. Den Rassismus haben Deutsche auf den Balkan gebracht.

Pančevo

Meine zweite Balkanroute führt mich in den Ort Pančevo. Über das Massaker, das Wehrmacht und SS dort verübten, habe ich im Geschichtsleistungskurs einen Essay geschrieben. Ich habe ihn noch auf meinem Rechner gefunden, leider aber nicht mehr in der ausgedruckten und bewerteten Fassung. Die wie üblich langen Anmerkungen meines Tutors hätte ich gerne wieder gelesen. Ungefähr eine halbe Seite regelmäßig unter einer Note, die – wie ich vermute und erinnere – entweder 12 oder 13 Punkte bedeutete.

Als Rache für den Mord an einem SS-Mann und neun Mitgliedern der paramilitärischen Volksgruppenformation Deutsche Mannschaft töteten reguläre Truppen 36 Männer und Jugendliche. Sie wurden erhängt oder an einer Friedhofsmauer erschossen. Dieses Massaker ist beispielhaft für die zahlreich vorgenommene Blutrache, die in ganz Osteuropa zur „Besatzungspolitik“ der Deutschen zählte. Ich schrub damals:

Angesichts der Aufnahmen aus Pancevo muss über die zutiefst unmenschlichen Praktiken nachgedacht werden, denen normale Soldaten verfielen. Gleichzeitig muss uns bewusst sein, dass gerade dieses Verhalten menschlich ist. Es stellt sich unmittelbar die Frage: Wie hätte ich gehandelt? Sind wir alle zu einer solchen Tat – der Ermordung von unschuldigen, unbewaffneten, schutzlosen Menschen – fähig? Denn eines ist sicher: das Massaker von Pancevo kann, wie jedes andere Massaker des 2. Weltkrieges, nicht nur eine Summe der missfälligen Umstände sein. Natürlich wurden die deutschen Soldaten von der Nazi-Propaganda indoktriniert, natürlich war der Kampf gegen einen unsichtbaren Feind nervenaufreibend, natürlich ist die direkte Kriegserfahrung erschütternd, was aber macht aus einem regulären Soldaten einen Kriegsverbrecher?

Die Beschäftigung mit dem Massaker von Pancevo und mit der Komplizenschaft der Volksdeutschen bei der Besatzung Osteuropas hat damals in mir das erste Mal Interesse auch für die Verwicklungen meiner eigenen Vorfahren in die Verbrechen Nazideutschlands geweckt.

Dass die durchaus segensreiche Besiedlung Osteuropas durch Deutsche niemals konfliktfrei verlief, weil sie eben nicht als „Kolonisatoren“ kamen, sondern in eine Region, in der schon seit Jahrhunderten die unterschiedlichsten Völker und Religionen neben- und mit- und gegeneinander lebten, das ist verständlich und auch historisch einsichtig.

Dass aber Nachbarn und Kollegen sich nicht einfach nur fremd, sondern feind wurden, dass sie einander mordeten, das bleibt bis heute entsetzlich. Und von dieser Feindschaft gegeneinander muss die Verstrickung der Deutschen in den Massenmord noch einmal unterschieden werden.

Es mag den oftmals provinziellen Volksdeutschen am Rand der europäischen Geschichte nicht immer aufgegangen sein, wem und was sie sich dienstbar machten, doch die Überlebenden und ihre Nachkommen sind bis heute eine ausgewogene Deutung deutschen Siedelns im Osten Europas und besonders auf dem Balkan schuldig geblieben.

Man schneidet an den beeindruckenden Lebensleistungen der Vorväter nichts ab, wenn auch ihre stille oder laute Zustimmung zum Nationalsozialismus, die unter den Volksdeutschen mächtig war, einzelnes widerständiges Verhalten und die Beteiligung an Verbrechen und Massenmord mit in den Blick genommen werden.

So fremd ist der Balkan nicht, die Deutschen waren schon da. Erst als Nachbarn im Vielvölkerstaat der K.-u.-K.-Monarchie und später als Besatzer.

Balkanroute, Herbst 2015

Als im letzten Herbst in der Flüchtlingsdebatte in Deutschland immer häufiger von der Balkanroute die Rede war, habe ich mich bei vielen Erwähnungen fast körperlich gewunden. Als die CSU mit großer Selbstverständlichkeit von „Wirtschaftsflüchtlingen“ sprach, da habe ich mich nicht nur wegen der zynischen Ausweidung von scheinbar mehr oder weniger wertigen Fluchtursachen geschämt. Ich habe in dem Wort Balkanroute auch ein uraltes, deutsches, osteuropäisches Ressentiment mitgehört. Denn natürlich ging es den Herren von Rechts vor allem um die Zigeuner.

Die Sinti und Roma gelten bis heute den Völkern Osteuropas und auch vielen Deutschen als ein dreckiges, faules Volk. Ähnlich wie der Antisemitismus haust der Antiziganismus den Völkern Osteuropas in den Knochen, mit allen mehr oder weniger komplexen psychologischen Wendungen, politischen Abweisungen oder Rechtfertigungen, sozio-kulturellen Ursachen und vor allem mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen.

Die Roma werden in vielen Ländern Osteuropas widerwillig geduldet und haben sich gerade in den Jahren seit dem Zusammenbruch des Ostblocks stärker in die Mehrheitsgesellschaften integriert, als es die Zwangsmaßnahmen der kommunistischen Machthaber je vermochten. Kapitalismus und Globalisierung haben mehr für die Integration der Roma geleistet als z.B. die im Rumänien Ceaușescus durchgeführten Zwangsansiedlungen. Jene weckten den Widerstand der stolzen Zigeuner, während ihre Traditionen heute unbemerkt und unbetrauert hinwegschmelzen.

Doch in vielen Regionen vor unserer Haustür werden sie immer noch mit Hass überschüttet und sind Pogromen ausgeliefert. Wenn es also im Herbst um die Flüchtlinge auf der Balkanroute ging, dann ging es auch – in mehr als in einem verschwiegenen Nebensatz – um die Roma, die aus ihrer sozialen und wirtschaftlichen Not aus den Ländern des Balkans flohen. Und es ging um Menschen, die nach konkreten Gewalterfahrungen, nach Pogromen, ihre Heimat verließen.

Dass ausgerechnet in Deutschland unter der Chiffre Balkanroute das Schicksal der Roma so wenig und leise zur Sprache kommt, ist entsetzlich. Es waren die Deutschen, die unter eilfertiger Hilfe aller osteuropäischen Völker während des 2. Weltkrieges auch die Sinti und Roma Europas verfolgten und systematisch vernichteten. Daraus erwächst eine bleibende Verantwortung für das Schicksal der Roma und Sinti bis in unsere Zeit. Diese sind wir nicht nur allen Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und ihren Nachkommen schuldig, sondern uns selbst.

Auf den Schwachen herumzutrampeln, ihr Schicksal zu ignorieren, das ist den großen Völkern Osteuropas einfach unwürdig. Wie es um die Länder Osteuropas und um unser eigenes Land wirklich steht, das sehen wir daran, wie wir mit den Minderheiten bei uns in Europa umgehen, gerade auch mit den unbequemen. Am Schicksal der Minderheiten, exemplarisch am Schicksal der Roma, entscheidet sich die Frage, ob Europa ein Kontinent der Humanität sein kann oder ob uns die eigene Vergangenheit samt Rassismus in Wort und Tat einholt. Schon allein deshalb kann uns nicht egal sein, wie auf dem Balkan und derzeit vor allem – innerhalb der Europäischen Union – in Ungarn mit den Roma verfahren wird.

Heimat, 1999

Ich bin nur ein Königskind / Das andere ist mir fremd / Wir sind auf beiden Lippen blind / Wir trau’n uns nicht aus dem Hemd / … / Die Lage verfahr’n / Das Schiff fast versenkt / Die Band spielt „Oh wie ist das schön“ / Ablenkungsmanöver werden durchgeführt / Die im Dunkeln sind, werden übersehen [1]

Den Schmerz, die Heimat zu lassen, können und wollen wir dem noch nachspüren, ihn gelten lassen? Sind wir denn alle so heimatlos, dass uns ihr Verlust nichts mehr sagt? Ich glaube es nicht.

Sicher, meine Heimat ist, wie die vieler junger Menschen, nicht mehr nur an einen konkreten Ort, an eine Sprach- und Kulturlandschaft gebunden, aber ich habe doch Orte, Leute, Traditionen, die, würden sie mir genommen, auch einen Teil von mir mit sich nehmen würden. Und ich weiß, dass es vielen von uns so geht.

Manchesmal käme es darauf an, ihnen nachzuspüren, sich ihres Wertes neu zu versichern. Nur eine Konsequenz daraus wäre, dass uns der Verlust der Heimat, wie ihn zahllose Menschen heute erleiden, nicht kalt lassen kann. Ich bin auch nicht der Einzige, der ob der Herzenskälte so manches alten Flüchtlings und Vertriebenen erstarrt.

Ich schaue mir meine Familie an. Seit sich z.B. ein Jakob Greifenstein auf nach Tscherwenka machte, weil er sich dort ein besseres Leben erhoffte, sind wir weit herum gekommen. Über die zweite Generation sind wir an vielen der Stationen nicht hinaus gekommen. So richtig freiwillig sind wir wohl niemals gegangen und für welche Generation es besonders hart war, die gewonnene Heimat wieder zu lassen, ein Urteil darüber steht mir nicht zu. Doch sind wir allenorten auch glücklich geworden, ganz unabhängig davon, ob wir Teil einer offensichtlicheren Parallelgesellschaft waren oder wie heute in unserem Zweisprachenland so etwas wie alteingessene Teile der Mehrheitsgesellschaft sind.

Zweisprachenland, entfernt verwandt / An verschiedene Ufer gespült / Zum gemeinsamen Gelingen verdammt / Heimat ist kein Ort / Heimat ist ein Gefühl [1]

Schaue ich mir meine Familie an, dann sehe ich reichlich Kontinuität, die viele heute den Neuankömmlingen vorwerfen. Bis dass der erste Rumäne einheiratete, musste die Welt aus den Fugen geraten und die alte Ordnung gemeinsam mit allen Bezugspunkten von Nation, Tradition und Religion hinweggerissen werden. Bis der erste Roma Teil der Familie wurde, fiel ein eiserner Vorhang und rückte die Welt zueinander, dass es einigen bedrohlich eng wurde.

Und ich sehe viele, sehr viele Verknüpfungen und Verknotungen mit den Heimaten der Vergangenheit, die erhalten geblieben sind, trotzdem wir weiter zogen. Sie sind uns ans Herz gewachsen, dem einen mehr als dem anderen, doch über unsere Familie zu sprechen ohne die Orte der Vergangenheit anzuschauen, das ist schlicht nicht möglich. Ich glaube, wir können sehr dankbar sein, Heimaten gefunden zu haben, wenn auch „nur“ für zwei Generationen am Stück. Über solche Heimaten auf Zeit können wir alle dankbar sein.

Die Wanderschaft, so stelle ich mit Blick auf die Vergangenheit meiner Familie wieder neu fest, ist der Normalzustand. Das haben wir in unserem saturierten Land vielleicht ein wenig verdrängt oder schlicht vergessen. Vielleicht kann man ja auch zu lange am gleichen Ort bleiben? Die Erinnerung daran, dass auch wir „gerade erst“ hier angekommen sind, die kann uns bewahren vor den blödsinnigsten Eitelkeiten.

Balkan, 1999

Die Deutschen führen wieder Krieg auf dem Balkan, diesmal um den Kosovo. Sie unterstützen die Bündnispartner der NATO, vor allem us-amerikanische Truppen. Es ist die erste NATO-Operation ohne Ausrufung des Bündnisfalls und ohne ausdrückliches UN-Mandat.

Wie immer man damals oder heute zur deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg oder dem nachfolgenden Einsatz der Bundeswehr zur Stabilisierung des Kosovo steht, es hat sich darin ein neues Engagement auf und um den Balkan ausgedrückt. Über die historischen und moralischen Implikationen wurde damals viel gestritten. Es ist mehr als eine Ironie der Geschichte, dass es ausgerechnet Sozialdemokraten und Grüne waren, die in ihrer ersten gemeinsamen Regierungsperiode auf Bundesebene diesen Einsatz zu verantworten hatten.

Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg ist nicht denkbar ohne Srebrenica. Nicht noch einmal wollte die internationale Gemeinschaft tatenlos Kriegsverbrechen zuschauen. Dass auch dieser Konflikt des Balkans noch lange nicht ausgestanden ist, zeigen die höchst unterschiedlichen Urteile des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag aus jüngster Zeit und die Reaktionen darauf in ganz Europa und besonders in Serbien.

Balkanroute, Frühjahr 2016

Unser öffentliches Engagement für den Balkan ist zurückgegangen, stark gesunken. Viele Deutsche sind auch im März 2016 froh über die relativ offenen Grenzen, die Flüchtlingen und Hilfe- und Zukunftssuchern nicht als unüberwindbare Mauern erscheinen. Dass unsere Grenzen offen bleiben können, die Zahl der Ankommenden jedoch sinkt und sich als Folge dessen die Flüchtlingsproblematik, die sich auch zu einer Herausforderung für unsere Demokratie entwickelt hat, entspannt, dass ist der Schließung der Grenzen auf dem Balkan zu verdanken.

Wenn die AfD mit ihrer Propaganda in den nächsten Wochen weniger verfangen wird, dann hat das nicht nur mit dem nächsten Großthema Panama Papers zu tun oder damit, dass sie sich in den Landesparlamenten der Republik aller Wahrscheinlichkeit nach schwer tun wird, sondern eine Menge auch damit, dass das Leid der Flüchtlinge uns eben nicht mehr unmittelbar betreffen wird, weil sie die Grenzen unseres Landes nicht mehr erreichen werden.

Doch unsere Verantwortung endet nicht an den Grenzen Deutschlands. So kann nur der denken, der sich eben aus einem tradierten Nationalgedanken als Deutscher versteht. Schon derjenige, der darüber hinaus auch als Europäer denkt, kann es sich nicht gar so einfach machen.

Heimat, 2016

Schaue ich mir heute meine Heimat Deutschland an, so komme ich nicht umhin, sie im Vergleich zu den Heimaten meiner Vorfahren für die beste zu halten. Nicht emotional, wohlgemerkt, sondern gemessen an den gründlich beschworenen Maßstäben unserer Zeit: Niemals hatte einer der Greifensteine, deren Grabsteine in Benzenz oder Dresden stehen, das Glück, in einem so friedlichen, freien, wohlhabenden Land zu leben.

Und das sei nicht nur so dahin gesagt: Zu jeder Zeit ein gemütliches Bett und einen gedeckten Tisch. Auf dem Heizkörper vorgewärmte Anziehsachen vor dem Weg in den Kindergarten und die Schule. Spielzeug in Hülle und Fülle. Bildung. Krankenhäuser, die man ohne Angst und Ekel betreten und viel häufiger als früher geheilt und ohne finanzielle Schulden verlassen kann. Bücher, die zu Hunderten in unserem Regal stehen und in denen alles stehen darf, was sich der menschliche Geist erdenken kann. Eine Regierung, frei gewählt und trotz allem Fehl und Tadel tausendmal besser als jene der Vorväter. Und ja, auch Straßen auf denen noch der größte Depp das brüllen darf, was er für richtig hält. Wo und wann hat es das in Europa jemals gegeben?

Dass es mich hier her verschlagen hat, ist nur eine Folge der Route, die meine Familie über die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte genommen hat. Das ist ein Glück und ich fühl mich hier ganz wohlig, auch weil meine Heimat zu meinen Lebzeiten, doch ganz ohne mein Zutun, zu einem Riesen gewachsen ist. Denn die Heimaten der Vergangenheit gehören nun nicht mehr nur sentimental zu meiner dazu, sondern friedlich und freiheitlich verbunden in diesem neuen großen Europa, zu dessen Union auch das heutige Serbien und der ganze Balkan dazustoßen werden, ganz bestimmt.

Kann man zu lange in der Heimat bleiben? Sicher, wenn sie einem zu eng geworden ist. Dann sollte man sich sogar auch ohne triftigen äußeren Grund auf den Weg machen, wenn auch nur im Kopf. In ein Morgenland zum Beispiel. Wir vergrößern die Heimat, indem wir sie teilen. Wir preisen sie, indem wir sie offen halten. Ich muss die meine zum Glück nicht verlassen, um nicht nur in ihr zu bleiben. Ich möchte gerne Parteigänger der Morgenlandpartei sein.

Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können. [2]


  1. Heimat – Herbert Grönemeyer, B-Seite auf der Single „Ich dreh mich um Dich“ am 31. Mai 1999. Zitiert von hier.
  2. Ein Fragment von Hilde Domin. Zitiert von hier.