„Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.“ – 1. Korinther 7, 23

Friedrich D. E. Schleiermacher wandte sich an seine Zeitgenossen, die er als die gebildeten Verächter der Religion empfand. Stéphane Hessel wendet sich mit seinem Aufruf „Empört Euch!“ an die gebildeten Verächter des derzeitigen kapitalistischen Systems. Der eine ermöglichte den Gebildeten eine erneute, wenn auch veränderte Beschäftigung mit ihrer Religion, dem Christentum, in dem er es aus den Studierstuben und den Sakristeien heraustrieb und in den Diskurs der modernen Öffentlichkeit stellte. Der andere treibt in den letzten Monaten junge Menschen auf der ganzen Welt auf die Straße. „Occupy“ heißt besetzen. Zuerst in Madrid und Chile, dann in New York und ganz Europa besetzten Jugendliche Straßen und Kreuzungen und mit ihnen die Öffentlichkeit mit ihrem emanzipatorischen Thema: die Herrschaft der Welt in die Hände der Bürger zu legen und nicht in denen der Wirtschaft oder des politischen Betriebs zu belassen, die bemüht sind die Interessen des 1 % gegenüber den der 99 % der Menschen zu wahren.

Auch Christen nehmen weltweit an dieser Bewegung Teil. In den USA gibt es inzwischen sogar „Besetzungsgeistliche„. Geistliche aller Religionen, die die Besetzer durch Seelsorge und theologische Begleitung stärken. Grund genug auch für uns, die wir als Protestanten in unserem Land an Vermögen und Bildung reich gesegnet sind, darüber nachzudenken, ob der Ruf „Empört Euch!“ nicht auch an uns gerichtet ist. Die Idee des Bürgers, der zugleich frei und in demokratischer Gemeinschaft gebunden, Gestalter der Gesellschaft ist, steht denn auch nicht umsonst unserem reformatorischen Bild vom Christenmenschen nahe. Die Not der Vielen sollte uns auf die Straße treiben, auch in unserem eigenen Interesse. Zu viele der mühsam erstrittenen Freiheiten und Rechte sind uns klammheimlich schon wieder gestohlen worden.

Wir Christen können von der weltweiten „Occupy“-Bewegung lernen. Unsere Kirche muss wieder neu besetzt werden; von Menschen, die sich ihrer Freiheit wohl bewusst sind und für sie streiten wollen, welchen Geschlechts oder welcher sexuellen Orientierung auch immer. Und unsere Gesellschaft braucht Christen, die sich aus dem Evangelium heraus für Teilhabe und Demokratie einsetzen – in Sachsen und auf der ganzen Welt.