Ich habe mich jetzt ein paar Tage mit der Frage gequält, ob ich diesen Artikel tatsächlich schreiben sollte oder ob damit nicht tatsächlich eine Grenze überschritten würde. Aber am Ende bin ich mir sicher: Die Kirche kann vom Dschungelcamp lernen. Nicht alles, was das Dschungelcamp auf RTL verzapft, ist per se verdammungswürdig, auch wenn nicht alles davon zum Vorbild gereicht. Jeder denkende Mensch wird das Dschungelcamp – wenn er es denn schaut, wofür die Hammerquoten zu später Stunde sprechen – mit gemischten Gefühlen schauen und sich gelegentlich ekeln oder beschmutzt fühlen – aber eben auch gut unterhalten.
Disclaimer
Ich habe das Dschungelcamp vor dieser Staffel nie gesehen, auch nicht in Ausschnitten. Ich hielt – und halte es in Teilen immer noch – für einen Ausbund der Niedertracht und des Kommerz, also für all das, was das Privatfernsehen ausmacht. Da ich überhaupt keinen Fernseher habe, war die Versuchung reinzuzappen noch kleiner. Aber ich schätze Roger Willemsen sehr, und was er vor ein paar Tagen über den Dschungel und vor allem Kandidatin Larissa in der Süddeutschen Zeitung schrieb und die Hammersätze, die ebendiese Larissa und die schlussendliche Siegerin Melanie herausgehauen haben, veranlassten mich dazu, ein paar der Folgen und Zusammenschnitte anzuschauen. Ich bin ehrlich: Ich wurde großartig unterhalten.
Und darum geht es, das sei den Moralaposteln gleich vorweg gesagt. Wer sich über RTL, das Dschungelcamp, die plurale Mediengesellschaft oder so etwas aufregen will, soll das woanders tun. Es gilt, was Pfarrer Dietmar Heeg von der katholischen Fernseharbeit schon vor Jahren sagte, es muss ja in der Tat niemand zuschauen.
Langweile nicht.
Das Dschungelcamp macht Unterhaltung um der Unterhaltung willen, das ist für die Kirche zu wenig. Erstens, ist Zweck der kirchlichen Arbeit ja nicht die Unterhaltung der Menschen, auch wenn man sich bei Kardinal Meißner da nicht mehr ganz sicher sein kann. Zweitens, steckt hinter jedem kirchlichen Handeln mehr als Selbstzweck. Es wird nicht nur um des Predigens willen gepredigt, um der Diakonie willen gepflegt, des Unterrichts wegen unterrichtet, der Seelsorge wegen geseelsorgt. Immer liegt – oder sollte liegen – dahinter die Konzentration auf einen konkreten Menschen und seine Glaubensgeschichte, seine Gesundheit, sein Lernen, sein Seelenheil. Gerade deshalb muss es der Kirche auch darum gehen, zu weilen zu unterhalten, denn auch dieses Bedürfnis ist menschlich, allzu menschlich.
Die Inszenierung muss stimmen.
Manche Inszenierungen aus Bild, Sprache und Musik im Dschungelcamp liegen hart an der Geschmacksgrenze oder drunter. Das muss nicht jedem gefallen, zeugt aber von einer Menge Mut beim Umgang mit den zahlreich genutzten Stilmitteln. Die Musikauswahl ist teilweise genialisch, die Kontextualisierung des Geschehens permanent. Die Sendung besteht zu 90 % aus Zusammenschnitten, da gibt es genug Anlass dazu. Natürlich werden so Urteile der Zuschauer vorbestimmt, Emotionen abgerufen – genau darum geht es ja bei einer Inszenierung! Schon Aristoteles unterschied drei Zwecke der Rede (Gerichtsrede, Beratungsrede bzw. politische Entscheidungsrede, Lob- und Festrede) und dazugehörige Wirkungsweisen. Nämlich docere et probare (belehren und argumentieren), conciliare et delectare (gewinnen, erfreuen) und flectere et movere (rühren, bewegen). Jeder Schnitt, jede Anmoderation oder Stimme aus dem Off, jedes Statement der Insassen will unbedingt etwas bewirken. Und niemand schämt sich dafür.
Das Publikum ist klüger als Du denkst.
Wer sich vor Inszenierungen fürchtet, fürchtet sich am Ende vor seinem Publikum. Wer – wenn auch aus hehren Motiven – Dramatisierungen ablehnt, der hält sein Publikum für dumm. So dumm sind die Menschen nicht, auch nicht die Zuschauer des Dschungelcamps. So wurde die Komikerin Tanja Schumann in ihrem Willen, das Camp frühzeitig ohne Geldverlust zu verlassen, von den Moderatoren bloßgestellt und das Publikum sorgte Abend für Abend dafür, dass sich ihr Traum nicht erfüllte. So folgten die Moderatoren und Autoren irgendwann dem Publikum in seiner Begeisterung für Larissa. So bestrafte das Publikum (männliche) Dominanz und Machogebaren. Die Zuschauer blickten durch die Selbstinszenierungen der Insassen und durch die Dramatisierung der Show hindurch und ließen sich gleichzeitig von ihnen unterhalten. So gesehen ist das Finden der Wahrheit, das Dahinterkommen, der Blick durch die bunte Darstellung der Form nach liturgisch.
Live in front of people!
So fasste Harrison Ford in Inside the Actors Studio einmal die Kunst des Schauspiels zusammen (unbedingt ansehen!), ein Grundsatz des Method Acting. Zwei Wochen lang bewegte die Insassen und das Publikum die Frage, ob Larissas tölpelhaftes Verhalten, ihre überkandidelte Art gespielt oder echt ist. Winfried Glatzeder bedachte die Darstellung schließlich mit einem vergifteten Kompliment als große Schauspielkunst. Doch ist nicht jedes Verhalten auch Darstellung? Wird nicht eine Darstellung dadurch glaubhaft, dass sie einen Anker im Gemüt des Menschen hat? Ist die Frage nach der Echtheit der Darstellung nicht einfach falsch gestellt?
Eine gutes Schauspiel ist nicht unehrlicher als gar kein Schauspiel, den das gibt es nicht. Du kannst dich nicht nicht darstellen, heißt, die Darstellung, die Grund und Fuß in realen Erfahrungen hat, im wirklichen Bild des Menschen, gewinnt. Das konnte man an Larissa und auch an Melanie beobachten. Für den Kirchenarbeiter (vor allem für den Prediger) ließe sich davon eine Scheibe abschneiden. Du musst dich nicht verstellen, sondern in deiner Darstellung dem Kern deiner Person in der Rolle die Du spielst treu bleiben. Wer die Rolle des verantwortlich Handelnden gewissenhaft spielt und die zugrundeliegendenen Gefühle wirklich spürt, der bleibt in seiner Darstellung ehrlich.
Du sollst nicht lügen, sonst fliegst Du raus!
Besonders eindrücklich wird dies beim Blick auf den gerade erwähnten Winfried Glatzeder. Ein vormals großer Schauspieler, als solcher irgendwie auch beschädigt, das ist klar. Er wollte ihn vielleicht spielen, schlussendlich aber war er der Grumpy Old Men des Camps. Stets forderte er Respekt gegenüber seinem Alter und seiner Lebenserfahrung ein und nahm für sich die Deutungshoheit gegenüber gerade den jungen Frauen im Camp in Anspruch. Das hatte solange Unterhaltungswert, bis er die Nerven verlor. Ein bisschen Gebrülle mag noch der Unterhaltung dienen, Handgreiflichkeiten werden jedoch vom Publikum nicht goutiert. Als er sein übergriffiges Verhalten gegenüber Larissa dann auch noch – wider besseren Wissens um die Fernsehbilder – abstritt und gegenüber anderen Insassen log, wählten ihn die Zuschauer heraus, obwohl sie sich damit um eine Hauptquelle ihrer Unterhaltung (Larissa vs. Glatzenpeter) brachten. Zwei Dinge lassen sich daran beobachten: 1) Die Zeit der alten Männer ist vorbei, vor allem, wenn sie ihre Rolle paternalistisch auslegen und die Geduld mit Jüngeren verlieren. Wenn ihr eigener vermessener Anspruch wirklicher Empathie im Wege steht. 2) Das Publikum bestraft Lügen in einer Direktheit (und Härte, wenn man das Verlassen des Camps und damit der Öffentlichkeit als solche sehen will), die sich andere Institutionen und die Kirchen schon lange nicht mehr zutrauen.
Manchmal muss es derb werden, damit es ehrlich bleibt.
Schon Luther wusste es, und Melanie führt es dem Zuschauer neu vor Augen: Ist eine Wahrheit erst einmal erkannt, verdient sie es, gelegentlich mit Wumms gesagt zu werden. Melanie Müller ist eine höfliche Frau, das Gepampe von Glatzeder ertrug sie geradezu stoisch. Ihre direkte Ansprachen gegenüber Larissa („Nu ningel doch nicht so rum“, „Bist du bescheuert, oder was?“) und ihre einmalig treffende und knappe Würdigung des Œuvres und Verhaltens von Michael Wendler („Soll er doch nach Hause gehen, diese Pissbirne.“ [Video bei RTL: Melanies Ost-Po-litik]) sind unterhaltsam und weise gleichermaßen. Sie lästert nicht, sondern haut raus, was sie bewegt. Dabei findet sie den richtigen Adressaten und bleibt im Rahmen der Inszenierung äußerst gerecht, weil Derbheit auch Liebe kleiden kann, nicht nur Ablehnung. Das kann man auch sehen, ohne ihre Pornovergangenheit und ihre recht offene Art (Euphemismusalarm!) gutzuheißen. Die Kirche möge lernen, von Pauschalisierungen Abstand zu nehmen und sich die Adressaten ihrer Kritik und ihres Zuspruchs gut auszuwählen, dann aber eben das Schwert (oder von mir aus auch die Schaufel) zur Hand zu nehmen, nicht immer nur das (rhetorisch stumpfe) Florett.
Nimm nicht alles bierernst!
Zur Inszenierung des Dschungelcamps gehören die süffisanten und ironischen Kommentare der Autoren und Moderatoren dazu, sind geradezu notwendige Einordnung des profanen Campgeschehens, die eigentliche Unterhaltung dahinter. Die Texte sind wirklich gut geschrieben, und hintergründig im Wortsinn. Die Kirche möge lernen: es gibt mehr als eine Stiltemperatur. Ironie und feinen Witz muss man nicht meiden wie der Teufel das Weihwasser. Das gilt im Besonderen von den Albernheiten und dem Gelümmel der Insassen. Zu Zeiten erinnerte mich das an die Dümmelein, die ich in der Evangelischen Jugend und an meinem Küchentisch erlebe. Der Mensch bleibt homo ludens auch im Erwachsenenalter. Albern zu sein, sich an dämlichen Spielen zu erfreuen und über Witze lachen; all das ist großartig, weil wir es brauchen. Solche Art der Entlastung spielt aber in modernen Konzepten der Kontingenzbewältigung nur eine sehr untergeordnete Rolle. Doch es gibt ihn, den heiligen Narren, der das Unglück ins Lächerliche zieht und damit erträglich macht. Mit Camus: Der Mensch, der aufs Neue beginnt, den Stein bergan zu schieben, kann nicht nur ein Einsehen in seine Misere haben, sondern sich über sie erheben, zum Beispiel durch die Kraft des Lachens. Es gibt ein Grundrecht auf Trash, wenn auch nicht im deutschen Grundgesetz.
Den Mensch als homo ludens zu sehen, erklärt denn auch, warum bis zu 8 Millionen Menschen das Dschungelcamp anschauen. Und warum sich der Intellektuelle Roger Willemsen beim Abstieg in solche Sphären nicht dreckig macht. Die Beschäftigung mit dem menschlich Allzumenschlichen beschmutzt nicht, sondern kann zur Läuterung beitragen. Vor allem sagt sie dem eigenen Standesdünkel den Kampf an!
Beleidige nie die Ossis!
Schöne Grüße aus dem Osten hat Melanie Müller auf ihrem Arsch tätowiert und Larissa grüßt allenthalben ihr Kaiserinnenreich Österreich. Beide pflegen zu ihrer Herkunft, die ja nur ein Beispiel für ihre Identitätskonstruktion ist, ein gleichzeitig ironisches und stolzes Verhältnis. Leg dich besser nicht mit Menschen an, die wissen woher sie kommen, was ihnen wichtig ist, wofür zu kämpfen sich lohnt und die sich im Spiegel anschauen und schmunzeln können.
Habe Mut!
Das gilt vom Mut der Sendungsmacher, an den Grenzen zu operieren. Kann man das sagen? Sollte man es sagen und wie verpacken wir es dann richtig, z.B. Kritik an der eigenen Sendung, am Sender, an der BILD? Kann man das noch senden oder überschreitet das die Grenze nicht nur des schlechten Geschmacks, sondern jeglichen Anstands? Natürlich ist hier nicht jeder Schuss ein Treffer, das nehmen die Macher billigend in Kauf. Das kann man ihnen vorwerfen, oder ihnen dazu gratulieren, dass wenigstens sie Mut haben, nicht im Sicherheitsraum hermetisch steriler Unterhaltung zu bleiben. Das ist das Leben Baby, auch wenn es gespielt wird.
Denn Gleiches gilt vom Mut mancher Insassen. Natürlich sind sie sich der Inszenierung bewusst, sie haben sehenden Auges unterschrieben, wissen, was auf sie zukommt. Doch scheint die konkrete Aufgabe, wenn sie vor einem steht, etwas ganz Anderes zu sein, als das vormals Gesehene. Eigentlich eine Binsenweisheit. Mehr Mut als für jegliche Dschungelprüfung braucht es, sich dem Unterhaltungsapparat mit dem Willen zur eigenen Nutzenmaximierung auszuliefern, wohl wissentlich, dass die Inszenierung nicht (nur) in den eigenen Händen liegt. Mut, sich selbst und anderen zu vertrauen, das braucht auch kirchliches Handeln, wenn es ihm um die Erfolgsmaximierung des eigenen Anliegens geht. Dazu braucht es die klare Formulierung dieses Anliegens, sicher, dann die Härte und den Witz es auch durchzuhalten, den Willen ehrlich zu bleiben, und schließlich das Vertrauen, dass es trotz oder wegen der Anderen schon gelingen wird.
Mehr:
Was die Kirche vom Supermarkt lernen kann
Was die Kirche von Timothy Spall lernen kann