Unter Heiden (5): Mauerfall

Der 9. November ist der Schicksalstag der Deutschen. 1848, 1918, 1923, 1938 und 1989; alles Jahreszahlen die im Gedächtnis der Nation einen bleibenden Platz haben. Der 9. November ist ein würdiger Gedenktag an die Geschichte unseres Landes, weil die Erinnerung an ihn sowohl die dunklen als auch hellen Zeiten zu erklären hilft. Mit dem mehr oder minder zufälligen Mauerfall 1989 war das Ende der DDR und auch der Reformbewegung innerhalb dieses deutschen Staates besiegelt. Danach konnte es nur noch darum gehen, wie „die Einheit in Frieden und Freiheit‟ hergestellt werden würde, nicht ob.

Vierundzwanzig Jahre nach diesem Schicksalstag der Deutschen leben wir in einem nach außen hin vereinten Land. Auch die innere Einheit des Landes ist in den letzten Jahrzehnten vorangeschritten, darüber habe ich hier schon geschrieben. Doch wie ist es um die Einheit in den Köpfen und – vielleicht noch wichtiger – in den Herzen bestellt?

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.‟ – Christa Wolf

Wenn ich in einem Gespräch anmerke, dass ich eine Kolumne mit dem Titel Unter Heiden über Ostdeutschland schreibe, bekomme ich vielfältige Rückmeldungen. Darunter manches Schmuzeln, das die Anspielung auf die Minderheitsposition der christlichen Kirchen in den neuen Bundesländern versteht. Aber auch manches Stirnrunzeln: Ist das wirklich noch notwendig, über zwanzig Jahre nach der Wende über Ostdeutschland zu schreiben, als ob es sich dabei um ein sonderbares Habitat handelt?

Angekommen in der Vergangenheit
Es sind vor allem die Gesichter der Angekommenen, die sich skeptisch in Falten legen. Die Gesichter vor allem der jungen Menschen, die Deutschland gar nicht mehr anders kennen. Die Mauer und die beiden deutschen Staaten, die 1989 und im darauffolgenden Herbst endgültig von der Landkarte verschwanden, existieren für heutige Studierende nur mehr in der Erinnerung der Eltern und Großeltern und als Unterrichtsstoff in der Schule.

Daran machen sich für mich schon zwei Gründe für das weitere Nachdenken über Ostdeutschland fest. Erstens, ist mit der Wende auch die alte Bundesrepublik verschwunden. Wenn auch die DDR rechtlich zur Bundesrepublik beigetreten ist, so haben die Erfahrungen, Geschichten und Biographien der Ostdeutschen vor, während und seit der Wiedervereinigung dieses Land verändert – stärker vielleicht als manch alt-bundesrepublikanischer Deutscher sich das vorstellen oder wünschen mag. Die lautstarken Zeugen dieses Beitrags zur gemeinsamen Geschichte schweigen inzwischen fast vollständig. Sie sind gestorben oder wurden aus Ämtern und Scheinwerferlicht gedrängt. Die Generation der Bürgerrechtler findet – außer auf Lesungen ihrer Autobiographien – kaum noch statt.

Und die beiden prominentesten Ostdeutschen, Angela Merkel und Joachim Gauck, verdanken ihre Popularität gerade dem Umstand, dass viele Menschen offenbar vergessen haben, dass es sich bei ihnen um ehemalige Zonis handelt. Nur selten rekurriert Frau Merkel auf ihre Biographie in der DDR, und für Herrn Gauck ist seine Geschichte während der DDR allein zum illustrierenden Hintergrund geworden für seine eigene (erfolgreiche) Lebensgeschichte. Gleiches gilt für manchen Schauspieler und Moderator, den die Nation zu kennen glaubt. Auch vierundzwanzig Jahre nach der Wende findet der gescheiterte Ossi nur bei Rechtsradikalen und ehemaligen DDR-Kadern statt, wo man ihn mit der gleichen paternalistischen Großzügigkeit umgarnt wie ehedem. Wer das Ansprechen einer spezifisch ostdeutschen Mentalität und Geschichte für unnötig hält, der hat diese Unglücklichen der Wende aus den Augen verloren oder niemals einen Blick auf die Schattenseite der Geschichte geworfen.

Zweitens, wenn unsere Geschichte nur mehr Lernstoff ist, den wir nach Lehrplan verordnet verabreicht bekommen, dann trennen wir sie tatsächlich ab von unserem eigenen Leben. In vielen Schulen der alten Bundesländer nimmt die Geschichte der DDR keinen Platz ein. Die Unkenntnis der Lehrer überträgt sich auf ihre Schüler. Und warum sollte man sich auch mit einem gescheiterten Staat beschäftigen?

Gedächtnis der Nation
Dabei ist es mehr als einsichtig und inzwischen auch durch neuere soziologische und psychologische Forschungen untermauert, dass die Biographien unserer Eltern und Großeltern auf unser Leben wirken, und sei es noch so unbewusst. Es geht nämlich nicht darum, Faktenwissen über die DDR und die Zeit seit der Wende anzuhäufen, sondern zu verstehen, was eine Diktatur mit den Menschen macht, und welche Brüche und Schwierigkeiten auch die Befreiung von einer Diktatur für das einzelne Leben mit sich bringen kann.

Die Kinder der letzten Kriegsgeneration lebten mit dem selbstzerstörerischen Verhalten, mit der Stumpfheit ihrer Eltern, die sie in Kinder- und Jugendtagen erlebten. Sie führten ihr individuelles Erleben zurück auf das Leben ihrer Eltern während der Nazi-Diktatur und des 2. Weltkriegs. Erst als in der Öffentlichkeit und dann in vielen Familien über die Vergangenheit gesprochen wurde, war dem gegenseitigen Verstehen und Vergeben ein Weg gebahnt, den viele trotzdem nicht gehen konnten. Was passiert mit den Kindern, die ihre Eltern an der Wende haben scheitern sehen? Für die Stumpfheit und Schweigen ebenso zu ihren Kinder- und Jugendtagen gehörten?

Aussöhnung und Vergebung
Es gibt so etwas wie eine „offizielle‟ Aufarbeitung. Dazu gehören Gerichtsprozesse, die zumindest ein wenig Gerechtigkeit herzustellen versuchen. Solche Prozesse gab es nach der Nazi-Diktatur wie nach der DDR. Anders als nach dem Ende des Nationalsozialismus erwischte es nach der Wiedervereinigung auch viele der kleinen Handlanger und Profiteure der Diktatur. Wer in der DDR-Nomenklatura mitgespielt hatte, aber doch nicht so sehr überzeugt war, dass er auch nach der Wende „treu‟ blieb, der bemüht sich heute um Verschwiegenheit. Die „Treuen‟ aber finden sich bis heute in manchem Parlament und auf der Sonnenseite der Geschichte.

Zur offiziellen Aufarbeitung hat insbesondere die Aufarbeitung der Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit beigetragen. Darum beneiden uns nicht umsonst viele Bürger der anderen untergegangenen sozialistischen Staaten Europas. Die offizielle Aufarbeitung der Diktatur darf darum nicht aufhören, weil sie zum weiteren, tieferen Verständnis der Geschichte beiträgt. Wohl aber muss das Fingerzeigen auf die Kleinen aufhören. Der Dresdner Komiker und Schauspieler Uwe Steimle phrasiert gerne, dass der Sachse zwar nicht nachtragend sei, aber auch nicht vergisst. Man wünschte so manchem ost- und auch westdeutschen Gerechtigkeitsapostel diese Einsicht.

Die Aussöhnung der Deutschen mit ihrer Geschichte im gesellschaftlichen wie im privaten Kontext benötigt weitere Vertiefung der Geschichtskenntnisse, was es nicht braucht sind Rachegedanken. Dafür haben uns die Menschen in Ostdeutschland ein wunderbares Beispiel gegeben. Die bisherige Aufarbeitung der DDR-Diktatur hat die Grundlage dafür gelegt, dass wir in unseren Familien heute unbefangener und offener – wenngleich nicht unkomplizierter und ohne Dissens – über die Geschichte der DDR und ihrer Menschen reden können. Anders als unsere Eltern mussten wir darauf nicht Jahrzehnte warten. Wir mussten für diese Aufarbeitung jedoch auch nicht kämpfen, wie es insbesondere Studierende eine Generation vor uns getan haben. Vielleicht mangelt es uns deshalb an Interesse?

Die Aussöhnung der Deutschen mit ihrer Geschichte braucht die Vergebung im Privaten. Das gilt auch für die Westdeutschen, die meinen, mit der DDR-Geschichte keinen Teil ihrer Geschichte vor sich zu haben. Sie irren. Man muss nicht in der DDR gelebt haben, um von ihr beeinflusst worden zu sein. In vielen Einstellungen und Vorurteilen der Ost- wie der Westdeutschen lese ich auch heute noch den Einfluss heraus, den die Abgrenzung von oder die Teilhabe an der Diktatur für die Leben der Menschen bis heute hat. Wenn man so will, haben die sprichwörtliche Arroganz der Wessis als auch das Duckmäusertum der Ossis hier ihren „Sitz im Denken‟.

Dabei scheinen die alten Grenzen nur von bedingter Erklärungskraft; denn wie unterschiedlich muss die persönliche Aufarbeitung der eigenen Haltung zur sozialistischen Diktatur für den aussehen, der in der alten Bundesrepublik an idealistisch gemalten Bildern des Sozialismus festhielt, und auf der anderen Seite der alten Grenze für den, der im real-existierenden Sozialismus andere Werte vertrat.

Begegnung mit gemeinsamer Vergangenheit
Im letzten Herbst besuchte ich mit einer Gruppe vornehmlich im Westen aufgewachsener junger Erwachsener die Außenstelle der Jahn-Behörde in Halle. Vielfach zum ersten Mal hörten und sahen sie die Ausmaße, die die Überwachung eines ganzen Volkes angenommen hatte. Durch Gespräche mit der Erlebnisgeneration vertieften sich die gemachten Eindrücke später. Das kann kein Unterricht nach Lehrplan leisten. Weil aber die DDR auch zum gesellschaftlichen Gedächtnis derer gehört, die in den westdeutschen Bundesländern aufwachsen oder aufwuchsen, ist die persönliche Begegnung mit der Geschichte notwendig.

Es ist eine wiederkehrende Erfahrung der jungen Generationen, bei der Bewältigung des Lebens von den Alten im Stich gelassen zu werden. Nicht vollständig, aber doch darin, sich in einer schnell verändernden Welt zurecht zu finden. Das haben die jungen Menschen in Ostdeutschland nach der Wende stärker wahrgenommen, als Gleichaltrige im Westen, deren Familienbiographien nicht gebrochen wurden. Und sie haben es zu großen Teilen mit voller Kraft und großem Geschick geschafft. Das zeigen die beeindruckenden Biographien mancher junger Ostdeutschen. Mancher aus der Erlebnisgeneration hat zu Aussöhnung und Vergebung im großen Maße beigetragen. Die weitere Arbeit der Aussöhnung und Vergebung ist die Aufgabe der Jungen.

Orte des Denkens, der Erinnerung
Wie auch nach dem Ende des Nationalsozialismus es vor allem Studierende waren, die an ihren Universitäten laut nachzudenken anfingen, so braucht auch unsere Generation diese Orte des gemeinsamen Nachdenkens. Auch deshalb ist es gefährlich, wenn in Ostdeutschland an Universitäten zusammengestrichen und gekürzt wird – vor allem in den Geisteswissenschaften. Denn rund um die Unis im Osten hat sich wieder das gebildet, was man dereinst ein Bildungsbürgertum nannte. In der DDR weitgehend in der inneren Emigration hat es sich an den Unis wiederbelebt und verjüngt. In Jena, Halle, Leipzig, auch in Rostock, Greifswald und Dresden.

Es war der Mauerbau 1961, mit dem die DDR-Führung einen Brain-Drain unglaublichen Ausmaßes zu stoppen versuchte. Immer mehr junge, gebildete Bürger kehrten der DDR den Rücken, weil ihnen ihre Zukunftschancen beschnitten wurden. Weil sie nicht auf die EOS, auf die Universität gehen konnten. Weil sie im sozialistischen Einheitsbrei keine Möglichkeit des ehrlichen Lebens fanden.

Ironischer Weise brachte der Mauerfall 1989 einen neuen Brain-Drain. Abermals machten sich die Jungen und Gebildeten auf den Weg nach Westen, den Arbeitsplätzen hinterher. Niemand will es ihnen verdenken. Es bleibt gerade deshalb eine Aufgabe unserer Gesellschaft, den Osten nicht nur als Urlaubsregion, in der man Natur und weite Teile der Deutschen Geschichte besichtigen kann, zu erhalten, sondern als lebendigen, darum denkenden Teil des geeinten Deutschlands.

Mauerfall
Das Leben mit unserer Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf unser Leben heute (schließlich geht es ja auch bei Unter Heiden nicht immer um die DDR) gelingt, wenn wir offizielle Aufarbeitung mit der in unserem privaten Leben zusammenbringen, wenn wir Aussöhnung nicht nur mit der Geschichte, sondern auch Vergebung mit ihren Protagonisten betreiben, wenn wir Geschichte nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen betrachten. Die Mauer und ihr Fall gehören zu unserem Schicksal. Dem eigenen Schicksal kann man nicht ausweichen, man muss sich zu ihm verhalten. Mit Schmunzeln und Stirnrunzeln und Weiterdenken.


Einmal im Monat schreibe ich unter dem Titel Unter Heiden auf theologiestudierende.de über meine ostdeutsche Heimat. Etwas später erscheinen die Artikel hier auf meinem Blog. Es geht um Vorurteile, Lebenserfahrungen und Perspektiven. Es geht um Arbeit, Leben und Glauben.

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