Am 21. Januar 2015 jährt sich das Ableben Matthias Claudius‘ zum 200. Mal. Er ist einer der wenigen Dichter, von dem mit Fug und Recht behauptet werden kann, dass wenigstens einige seiner Zeilen in das Gedächtnis unserer Kultur eingeschrieben sind. Dazu gehören vielleicht noch ein paar Zeilen Goethe, Schiller, Heine und später sind Bonmonts von Kästner und Brecht hinzugetreten, aber jedes Kind kennt den Mond, der aufgegangen ist.
„Es gibt Melodien und Verse, die lange Zeit im kollektiven Gedächtnis einer Kultur bleiben – auch bei Leuten, die behaupten, keine Ahnung von Musik und Lyrik zu haben. In hiesigen Breiten wird beim Anblick des Mondes wohl nicht nur an Raumfahrt gedacht, sondern auch an das Abendlied von Matthias Claudius. „Der Mond ist aufgegangen“: Diese Verse schildern zunächst Natureindrücke, – Mond, schweigender Wald, weißer Nebel – dann gehen sie in eine kleine Predigt über, sprechen von der menschlichen Torheit; schließlich werden sie zum Gebet mit der Bitte um einen ruhigen Schlaf.“ – aus „Matthias Claudius – ein bescheidener Charakter“ von Angela Gutzeit (deutschlandfunk.de)
Neuer Biedermeier
Irgendwo – wahrscheinlich an mehreren Stellen in diesem Internet, nur wo genau, dass weiß ich nicht mehr – habe ich den letzten Tagen davon gelesen, dass wir den Beginn eines neuen Biedermeiers erleben. Der Erfolg von Hipster-Landzeitungen und der Unwille mancher Zeitgenossen gerade der jüngeren Generation, sich mit den wichtigen Fragen der Zeit auseinanderzusetzen, wurden als Beweise für diese These herangezogen.
Und vielleicht ist da ja auch was dran. Menschen jedenfalls haben das Recht, sich aus dem Strom der Welt auszuklinken, wenn es ihnen zu viel wird. Dass das passieren kann, wird wohl niemand bestreiten können, der auf die letzten Wochen – ja, Monate – mit wachem Auge zurückblickt. Sich eine Auszeit einzuräumen, muss auch nicht als pauschale Kritik an der Schnellig- und Dringlichkeit der Welt ausgelegt werden.
Doch das gibt es ja auch: Menschen, die die Politik und die Medien und das Internet dafür verantwortlich machen, dass ihnen der Kopf vor Komplexität und Diversität und Tempo dröhnt. Die Welt ist einigen zu bunt, zu schwierig zu begreifen und zu flott geworden. Darauf gibt es zwei Reaktionen: den Rückzug in das Private oder den Protest.
Biedermeier auf der Straße
Was für den einzelnen Menschen funktionieren kann, das führt gesamtgesellschaftlich zu Problemen. Der Rückzug ins Private gefährdet die Demokratie und unser aller Rechte. Die Wahrung der Menschenrechte kann eine Gesellschaft nicht der Wirtschaft oder dem Staat überlassen. Sie wurden gegen den Staat und gegen die Obrigkeit erstritten und bedürfen nach wie vor des Streits.
Aber auch der Protest wird problematisch, wenn er sich, statt gegen die zugrundeliegenden Mechanismen, nur gegen die scheinbaren Protagonisten von Komplexität, Diversität und Tempo richtet. Dann sind es die Politiker, die Journalisten und die Ausländer gegen die wieder auf die Straße gegangen wird.
Was stattdessen Not tut, ist die Leere zu adressieren, die am Grunde solcher Denke liegt. Es ist darum kein Zufall, dass es Dresdner Bürger sind, die den neuen aggressiven Biedermeier auf die Straße tragen. Haben sich im 20. Jahrhundert die staatsverordneten Ideologen als falsch erwiesen, so hat sich nach der Wende auch das Gegenparadigma von der Freiheit als schwierig und belastend herausgestellt. Auch der allgegenwärtige Konsum konnt die vorhandene Leere nicht füllen. Jetzt mit gefüllten Bäuchen fällt umso mehr auf, dass die Herzen leer blieben.
Sicherer Hafen Vergangenheit
Und es sind vor allem Männer, denen es an etwas ermangelt, wofür zu kämpfen sich lohnt. Niemand zwingt sie mehr, ihr Leben für Volk und Vaterland oder den Sozialismus zu geben. In der Tat, niemand will sie für irgendetwas, solange sie nur recht friedlich ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen und sich mit ihrem privaten Glück bescheiden. Ihre Suchbewegung nach kollektivem Sinn findet darum immer wieder in den alten Häfen Ruhe, weil sie als einzige Sinnmaschinen heute noch zu Verfügung stehen.
Darum es ist so gefährlich, wenn diese alten Häfen wieder offen geheißen werden, wenn konservative Politiker und so mancher 1989-Veteran deutliche Sympathie hegen für völkisches Gedankengut. Es sind diejenigen, die schon die letzten 20 Jahre von Ressentiments profitiert haben oder es nun erneut versuchen, die sich mit der Ideologie hinter den Protesten abfinden können.
Der Eine
Der Mensch lebt und bestehet
Nur eine kleine Zeit;
Und alle Welt vergehet
Mit ihrer Herrlichkeit.
Es ist nur Einer ewig und an allen Enden,
Und wir in Seinen Händen.
Geliebte Ruhe
Matthias Claudius starb vor 200 Jahren im Jahr 1815, dem Jahr des Wiener Kongresses. An ihn schlossen sich Jahre der Restauration an, in denen der Biermeier in Deutschland blühte. Aber dieser Biedermeier, mit all seinen romantischen Ausflüchten in das Private, war auch eine Zeit aufkeimenden Protestes. In diesem Protest verband sich der Wille zu einem geeinten Vaterland mit den Werten der Französischen Revolution.
Und so kann ich nicht einstimmen in den Chor derjenigen, die meinen, wir stünden wieder an der Schwelle eines Biedermeiers des Privaten. Denn nicht nur in meiner Twitter-Blase, sondern in den Köpfen gerade junger Menschen wie mir sehe ich auch den Willen, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in eine neue Zeit zu tragen. Diese neue Zeit ist durch Komplexität, Diversität und Tempo geprägt, das macht eine Neubestimmung was denn Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bedeuten, überhaupt erst notwendig.
Wir sollten nicht jede Pause vom Trubel der Diskussionen, jedes Ausschalten, alles Unpolitische schelten. Wir brauchen diese Pausen, weil es von Nöten ist, einen langen Atem zu haben. Und wir brauchen auch die Inseln der Vertrautheit und Einfachheit, von denen wir erneut aufbrechen können.
Kommentare
2 Antworten zu „Und alle Welt vergehet – Eine Biedermeierkritik zum 200. Todestag von Matthias Claudius“
Lieber Philipp, ich habe gerade mal meine Internetausdrucke durchgeschaut. Ich glaube, du meintest das hier: http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/01/entschleunigung-biedermeier-handarbeit-stressabbau . Ich bin über Peter Aschoff darauf gestoßen: http://www.elia-gemeinschaft.de/wordpress/2015/01/10/glaube-und-politik/achtsamkeit-oder-apfelbaeumchen-das-zeitgeist-dilemma
Martin
Danke Dir für die kleine Recherche. Den Friedrichs-Artikel habe ich tatsächlich gelesen! Den darauf abhebenden Blogartikel aber hatte ich noch nicht gesehen.
Du druckst Dir das Internet aus?