Der Ort der Freiheit – Predigt zu Markus 10, 13-16 (Segnung der Kinder)

Diese Predigt habe ich im Hauptseminar Homiletik 2012 geschrieben und vor dem Seminar gehalten. Aus aktuellem Anlass veröffentliche ich sie hier auch endlich auf dem Blog. Direkt vor der Predigt werden die Kinder in den Kindergottesdienst bzw. in den Krabbelgottesdienst eingeladen, dies geschieht durch Ansage des Pfarrers und das gemeinsame Lied der Gemeinde:

Komm geh mit mir
von Gott erzählen wollen wir
groß oder klein
Gott will bei uns sein

Das Lied wird so lange wiederholt, bis die Kinder das Kirchenschiff verlassen haben, darauf folgt unmittelbar die Predigt. (Ungefähr so, wie in meiner Beispielgemeinde, der Heilig-Geist-Kirche in Dresden.)


I

Komm geh mit mir.

Mit diesem Lied laden wir jeden Sonntag die Kinder in ihren Gottesdienst ein. Wir versuchen, ihnen in ihrer Sprache, gemäß ihrer Entwicklung zu begegnen. Der Kindergottesdienst ist mehr als ein berechtigtes Zugeständnis an die anderen Teilnehmer des Gottesdienstes, die während dessen Zeit und Ruhe haben, die Predigt zu hören. Den Kindergottesdienst würde es nicht geben ohne den heutigen Predigttext, der ebenso wie unser Einladungslied seinen festen Platz in unseren Gottesdiensten hat. Wenn wir Kinder taufen, hören wir zuvor auf diese Worte, die wir häufig das Kinderevangelium nennen. „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht.“

Die Kinder dürfen an den Taufstein kommen und die Taufe aus nächster Nähe verfolgen. Sicher ist das spannend, nah dran zu sein und mitten im Geschehen; und uns ist es in vielen Dingen zur Selbstverständlichkeit geworden, Kinder in das Zentrum des Geschehens einzulassen – nicht nur am Taufstein.

II

Ganz anders handeln die Jünger Jesu. Sie weisen die Unbekannten ab, die Kinder zu Jesus bringen wollen. Warum bringen die Unbekannten Kinder zu Jesus? Was wollen sie von ihm? Und warum weisen die Jünger sie ab? Stellen sie eine unerfüllbare Forderung oder ist es die kostbare Gegenwart ihres Lehrers, die sie nicht teilen möchten? Ich fühle mich erinnert an Heilungsgeschichten aus dem Neuen Testament, die damit beginnen, das Kranke zu Jesus gebracht werden. Treibt die Unbekannten vielleicht ebenso Sorge um das Wohl der Kinder?

Das Kindeswohl. Wir kennen es in Deutschland gut aus den Berichten über Kindesmissbrauch in Familien, Vereinen und der Kirche. Zum Kindeswohl gehören die körperliche und seelische Unversehrtheit und das Recht des Kindes auf die Wahrung seiner eigenen Interessen. Die Sorge um das Leben und Wohl der Kinder ist durch diesen kleinen Teil des Evangeliums vermittelt zu einem wichtigen Teil christlicher Ethik geworden. Aus dem Kinderevangelium entsprangen und entspringen bis heute viele Werke der Kinderfürsorge. Die Arbeit der christlichen Organisationen hier in unserem Land und auf der ganzen Welt haben geholfen, Not zu lindern und es vielen Kindern ermöglicht, von Krankheiten geheilt zu werden, Brot zum Essen zu haben und Kleider am Leib.

III

Die Unbekannten aber bringen die Kinder nicht, dass Jesus sie heile oder ihnen zu Essen oder Kleider gebe. Was wollen sie von ihm? Und warum weisen die Jünger sie ab?

An die Seite der Werke der Barmherzigkeit trat das Bemühen, um christliche Erziehung und Bildung der Kinder. Diese geschah, das können wir heute sagen, häufig nicht auf „kindgerechte“ Weise. Das Lebenswerk August Hermann Franckes, der in Halle die berühmten Stiftungen gründete, ist dafür ein Beispiel. Francke holte zu Beginn die armen und verwahrlosten Kinder von der Straße. Doch ging es ihm um mehr als die Versorgung mit dem täglich Notwendigen. Auch Bildung sollten die Kinder erlangen. Schon bald wurden die Stiftungen zum Ausbildungsleuchturm der preußischen Oberschicht. Kinder sollten, nach Francke, „auferzogen“ werden. Durch einen streng getakteten Tagesablauf aus Lernen, Arbeiten und Beten sollten die Kinder von all den Beschäftigungen abgehalten werden, die für sie verderblich seien: Langeweile, Frechheit, Unsinn und freies Spiel.

Dahinter steckt eine Vorstellung von der Natur des Kindes, wie sie für die Christen lange Zeit selbstverständlich war. Die Christenheit bedurfte des Einspruchs aufgeklärter Menschen und Zeiten, um das Kind nicht nur als Teil einer christlichen Hausgemeinschaft oder eines von der Religion geweihten bürgerlichen Haushaltes zu sehen, sondern als Geschöpf mit eigenem Recht, eigener Würde und Freiheit.

In unserem Land haben wir diese Veränderung auch den Pionieren des Kindergartens zu verdanken. Montessori, Fröbel und andere ermöglichten in ihren Einrichtungen den Kindern erstmals Freiräume. Neben die Eingliederung in die Gemeinschaft und Allgemeinheit, zu deren Nutzen auch dort Fertigkeiten vermittelt und moralische Regeln durchgesetzt wurden, trat nun das Eigene des Kindes, dass es in Freiheit entdecken durfte. Das setzt gleichwohl ein anderes Bild vom Kinde voraus: nicht als eines schludrigen Wesens, dem das Schlechte abzuerziehen ist, sondern als eines, das auf Grund seiner Geburt begabt und beauftragt ist, sich die Welt selbst zu eigen zu machen.

IV

All das ist bis in unsere Tage nicht vollendet. Die Welt der Kinder ist heute weit davon entfernt, eine Welt zu sein. Es herrschen unterschiedliche Aussichten auf Lebensermöglichung. Es gibt sowohl die totale Verneinung des Lebens und der Kindheit in Kriegen und unter den Bedingungen einer gewaltsamen Industrialisierung der Arbeitskraft des Kindes, unter denen seine anderen Kräfte verkümmern oder vernichtet werden. Als auch die im Westen üblich gewordene Chancenmaximierung, die Angst um die Zukunft der Kinder, die in Bildungs- und Erziehungsprojekten umgesetzt dem Kind mitgegeben wird. Unter dem Motto: Kinder sind die Zukunft unserer Pläne.

Kinderpsychologen mühen sich, den Eltern unserer Tage zu erklären, dass nicht in jedem kleinen Sebastian ein Einstein, in jeder Luisa ein Topmodell und in jedem Finn ein Superstar steckt. Vor zwei Wochen erntete ein us-amerikanischer Highschool-Lehrer Applaus für die simple Festellung „you are nothing special“, die er seinen Schülern anlässlich ihres Schulabschlusses mit auf den Weg gab (Link zum Video). Eine heilsame Ergänzung unseres Bildungs- und Erziehungsstrebens.

Denn mit dieser Feststellung trifft der Lehrer auf den Punkt. Unter 1,8 Milliarden Kindern dieser Erde, stehen das Maximum einer Lebenschance und die totale Verneinung des Kindes zwar an den Polen einer völlig zerrissenen Kinderwelt, in ihrer Tiefe steht jedoch etwas Anderes.

V

Die Unbekannten bringen die Kinder nicht, um sie heilen oder ausbilden zu lassen. Die Sorge um das Wohl und die Lebenschancen der Kinder dürfen uns nicht den Blick auf das verstellen, was die Unbekannten wirklich wollen und die Jünger hier verwehren.

Die Arme Jesu sind der Ort der Freiheit, an dem Segen gespendet wird, Leben seinen Anfang nehmen kann. Kinder haben ein Recht auf diesen Ort der Freiheit. Er ist ihnen, wie uns, geschenkt. Gegen die Abwehr der Kinder aber erhebt das Prophetenwort Jesu Einspruch und richtet auch unsere gutgemeinten Bemühungen um das Wohl der Kinder in der Welt und das Wohlbefinden unserer eigenen Kinder. „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht.“ Die Arme Jesu Christi sind der Ort der Freiheit.

VI

Die Unbekannten bringen die Kinder an diesen Ort und erbitten den Segen. Warum weisen die Jünger sie ab? Sind sich die Jünger der Besonderheit der Gegenwart Jesu, die Anfang ermöglicht, nicht gewahr? Schützen sie ihn gar, um diesen Ort nicht teilen zu müssen?

Das zweite Wort des Evangeliums richtet Jesus abermals an die Verhinderer der Freiheit. Diesmal nicht mit der Aufforderung, die Kinder zu ihm kommen zu lassen. Sondern mit der Drohung: „Amen, ich sage euch: Welcher auch immer das Reich Gottes nicht aufnimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ Wie Kinder werden, sollen die Jünger. Die Besonderheit des Ortes der Freiheit neu wahrnehmen, nur dann können sie verstehen, warum er nicht verwehrt werden darf.

Das Reich Gottes aufnehmen, wie es nur Kinder können? Wie ein Kind werden? In ein Land zurückkehren, das wir verlassen haben? Handelt es sich bei diesem Anspruch um eine Gemeinheit Jesu, einen weiteren Beweis auch unserer Unzulänglichkeit für das Reich Gottes?

Falsch verstehen wir die Botschaft des Evangeliums, wenn wir sie als Aufforderung zum Aufhören verstehen. Aufhören, zu denken. Aufhören, selbstverantwortet zu leben. Aufhören, zu zweifeln. Aufhören, erwachsen zu sein? Das Kind steht nicht für einen Idealzustand des Vertrauens und der Naivität. Dann wäre die Kindheit das absolute Ziel und die Ermächtigung und Befähigung, das Wachstum von Menschenleben nicht in Gottes Ratschluss. Das Kind ist das mächtige Symbol für den Anfang. Des Anfangs jedes Menschen, seiner Geburt, der Anfänge jedes Menschenlebens, seiner Wiedergeburt.

VII

In den Anfang ist trotzdem manches Aufhören eingeschlossen. Wie sollte ich mich erinnern und besinnen können, ohne Vergangenes zu bewerten, zu verurteilen oder gut zu heißen. Dieser Blick zurück kann schmerzhaft sein. Ich blicke zurück auf schamvolle Momente und Begegnungen, in denen ich Schuld auf mich geladen habe. Ich blicke zurück auf Begegnungen, die ein Segen für mich wurden. Auf erfüllte Momente und gemeisterte Herausforderungen. In den Anfang ist manches Aufhören eingeschlossen.

Im Anfang ist manches Aufhören angekommen. Wie sollte ich glauben können ohne zu zweifeln? Im Anfang ist auch die Unvollkommenheit meines Menschenlebens angekommen. Nicht als letztes Wort des Schicksals oder eines zynischen Gottes, der unbedingten Gehorsam und naive Vertrauensseligkeit fordert, sondern am Ort der Freiheit.

Wie ein Kind werden, heißt nicht, in ein Land zurückgehen, das ich verlassen habe – sondern meinen Anfang zu bedenken. Den Anfang meines Lebens, denn in diesem Anfang ist mein ganzes Leben ausgedrückt. Meine Geburt habe ich mit allen Menschen gemein – Menschen sind Geborene. Meine Geburt unterscheidet mich ebenso von allen anderen Menschen – jeder Mensch ist einzigartig, ich bin einzigartig. Einmal wurde ich als Einzigartiger in die Welt, in die Geschichte und in die Gesellschaft der Menschen hineingestellt.

VIII

Ich selbst bin ein Anfang, den Gott durch und mit meiner Geburt macht. Wie jedes Kind sein Eigenes entdecken soll, so ist meine Geburt für mich jeden Tag des Lebens die Chance, ein Mensch des Anfangs zu werden. Der Mensch ist in seinem Wesen mehr, als einfach nur eine Kreatur die da ist, sich entwickelt, eine Zeit lang lebt und vergeht, sondern ein Jemand, der selbst im Besitz der Fähigkeit ist, anzufangen.

In dieser Situation habe ich die Wahl, anzufangen oder es bleiben zu lassen. Auch deshalb ist dies notwendig ein Ort der Freiheit. In jedem Handeln, in jedem Wort, in jeder Tat fange ich an. Wie ein Kind zu werden, heißt, ein Mensch des Anfangs zu werden.

Es liegt hier tiefverwurzelter Anspruch an uns, im Leben anzufangen. Der Ort der Freiheit – die Umarmung Jesu – ist Anspruch; und Ermöglichung zugleich. Denn da ist auch Eignung, Mensch des Anfangs zu sein. Sie liegt begründet in meiner Geburt. Sich dieser Eignung zurückzubesinnen, darauf will Jesus hinaus, wenn er ermahnt, ja droht: werdet wie die Kinder.

Denn am Ort der Freiheit kann ich mir das Anfangen aneignen. In der Umarmung wird Segen gespendet. Anfangen braucht Mut und Inspiration – Be-Geisterung. Beides kann ich in der segenvollen Begegnung erfahren.

Die gewährte Freiheit und der geschenkte Segen werden in meinem Leben wirksam, wenn ich in Wort und Tat anfange, nicht wenn ich in der Umarmung Jesu verharre, am Ort der Freiheit stehen bleibe. Wie Abraham in ein fremdes Land, wie Israel aus Ägypten, wie die Jünger zur Nachfolge, wie das Kind beim Erwachsenwerden, bin ich zum anfangen, bin ich in den Anfang gerufen.

Amen.