Unter Heiden (14): Die deutsche Tea-Party

Liane Bednarz hat sich vor einer Weile in der F.A.S. mit der Anfälligkeit konservativer Katholiken und Evangelikalen für rechtsextremes Gedankengut auseinandergesetzt. Bednarz meint, jene „haben endlich eine politische Kraft gefunden, die zu ihnen passt: die AfD.“ Der Artikel hat unter Christen unterschiedlicher Couleur hohe Wellen geschlagen.  Zu diesem Themenkomplex habe ich schon hier, hier und hier etwas geschrieben.

Christen in der AfD

Es gibt eine Korrelation zwischen dem Politikangebot der „Christen in der AfD“ und den Themenfeldern, die in der Vergangenheit und Gegenwart für Evangelikale überhaupt politisch relevant waren und sind: Abtreibungsgegnerschaft, Christenverfolgung, traditionelle Familie. Liest man die Grundsatzerklärung der Christen in der AfD aufmerksam, wird man bemerken, dass sich ihre Politik in der Tat auf diese drei Themen beschränkt. Als ob es keine anderen Themen gäbe, die man aus christlicher Sicht beackern könnte.

Ob diese Korrelation davon kommt, dass es Evangelikale sind, die in der AfD Politik machen oder ob die AfD Politik macht, die sich ganz bewusst an die Evangelikalen richten will?

Die meisten Evangelikalen in Deutschland hatten mit Politik bisher nicht viel am Hut. Oder anders herum: Obwohl man gerade von ihnen erwarten könnte, dass ihr Glaube für ihre politischen Überzeugungen die einzige Richtschnur ist, haben sie sich in der Vergangenheit ganz anders verhalten, nämlich explizit „unpolitisch“. Das meint natürlich nicht, dass sich Evangelikale nicht auch in der Vergangenheit für z.B. verfolgte Christen, gegen Abtreibungsrechte und für eine konservative Familienpolitik erwärmen konnten. Doch ihr Engagement in den Gemeinden verblieb im Bednarzschen „vorpolitischen Raum“.

Dieser vorpolitische Raum ist geprägt von überlieferten und im Rahmen der Mehrheitsgesellschaft überkommenen traditionellen Glaubensüberzeugungen, in denen sich christlicher Fundamentalismus und reaktionäres politisches Gedankengut vermischen.

Wichtige Themen

Beispiel Christenverfolgung: In den evangelikalen Gruppen und Gemeinden wird ausschließlich durch die Lupe evangelikaler Hilfswerke wie z.B. OpenDoors auf das Schicksal verfolgter Christen geschaut. Das hat aber bisher nicht dazu geführt, dass man Diskriminierung Andersgläubiger in Deutschland übermäßig knorke fand. Man wählte halt CDU, denn der Abgeordnete hatte ja versprochen, sich auch für verfolgte Glaubensgeschwister im mittleren und nahen Osten einzusetzen.

Beispiel Abtreibungsgegnerschaft: Abtreibung wird unter Evangelikalen abgelehnt, noch mehr wird aber gar nicht darüber gesprochen – wie alles entfernt Sexuelle vor allem im Gewand von Tabus oder Verboten daher kommt. Man belässt es dabei, in der einschlägigen Presse oder in Büchern des SCM-Verlags von Einzelschicksalen zu lesen, denen in einer lebensgefährlichen Lage natürlich Gott und andere Christen beistanden und die auf diesem Wege gerettet wurden.

Im Kanon dieses besonderen Erbauungsliteraturgenres haben auch die Lebensgeschichten von ehemaligen Junkies, Prostituierten und Verbrechern ihren festen Platz. Von derlei witwenschüttlerischen Geschichten fühlt man sich inspiriert und in der eigenen Weltsicht bestätigt. Drogen, sexuelle Promiskuität, Menschenhandel, etc., all das spielt sich außerhalb der evangelikalen Welt ab oder wird im Modus Sünde -> Bekehrung abgehandelt. Ansonsten wählte man CDU, denn der Abgeordnete hatte ja versprochen, sich auch für die gescheiterten Existenzen und das ungeborene Leben einzusetzen.

Beispiel Familienbild: In evangelikalen Kreisen wird das traditionelle Familienbild hochgehalten. Und häufig auch erfolgreich gelebt: weniger Scheidungen, mehr Kinder, geordnete und häufig gut situierte Familienverhältnisse. Was sich hinter den Kulissen dieser Musterfamilien abspielt, das muss man nicht wissen.

Wenn abweichendes Verhalten vorfällt, z.B. wenn sich Kinder den Wünschen ihrer Eltern entziehen, dann hat das natürlich vor allem etwas damit zu tun, dass sie den Herrn Jesus nicht mehr als Herrn über ihr Leben ansehen – also vom Glauben abfallen. Dass es sich in der Realität gerade anders herum verhält, nämlich, dass die soziale Enge überschritten wird und der Glaube der Eltern und der Peergroup damit nicht Schritt halten kann und deshalb in Frage steht, wird häufig nicht gesehen.

Ansonsten aber wählte man CDU, denn der Abgeordnete hatte ja selbst eine attraktive Hausfrau und mehrere Kinder zu Hause und versprach, sich für die Bewahrung traditioneller, christlicher Werte einzusetzen.

Reaktionär, nicht evangelikal

Folgendes ist aber entscheidend: Für die adressierten Themen ist das Evangelikal-Sein der Evangelikalen völlig unerheblich, wenn man darunter Bibeltreue versteht. Denn den Umgang mit diesen politischen Themen bestimmt nicht die wörtliche Auslegung der Schrift, sondern konservative bis reaktionäre politische Überzeugung. Dass diese gleichzeitig und vornehmlich unter solchen Christen aufritt, die sich als evangelikal bezeichnen, ist eine Fragestellung an die Religionssoziologie.

Noch einmal: man kann politisch reaktionär denkender Christ sein, ohne evangelikal zu sein. Und auf die allermeisten Christen in der AfD wird wohl eher das zutreffen: Ihre Argumentation ist weder biblisch noch theologisch, sondern trägt ihre politischen Überzeugungen ohne Rücksicht auf Exegese und Glaubenstradition in ihre Vorstellung von Christ sein ein.

Um über Evangelikale und die AfD zu sprechen, ist kein Rückgriff auf (evangelikale) Theologie nötig. Vielmehr ist es zwingend geboten, die adressierten Politikfelder als solche zu betrachten, nämlich als Topoi einer sich explizit als rechts verstehenden Politik.

Diese rechte Politik hat in der AfD nun eine parteipolitische Entsprechung gefunden. Die AfD nimmt für die politische Rechte die Stellung ein, in die die Republikanische Partei in den USA gezwungen wurde, als sie von der Tea-Party gekapert wurde. Die deutsche Tea-Party ist eine Koalition aus unterschiedlichen Gruppen, deren Verbindendes nicht ihr christlicher Glaube – oder gar ihre evangelikale Überzeugung – ist, sondern ein reaktionäres Gesellschaftsbild, das nicht ohne die Unterscheidung von Wir -> Sie auskommt, also gruppenbezogen denkt.

Diese Gruppenan- und -abhängigkeit wird durchgehend als schicksalshaft verstanden. Sei es die Zugehörigkeit zum deutschen Volk, wie die völkischen Ideologen a’la Höcke meinen oder sei es die Zugehörigkeit zum christlichen Abendland, mit ganz spezifischen Vorstellungen von Moral und Sitte, wie es christliche Ideologen a’la von Storch propagieren. Beide gelten ihren Proklamatoren als unhintergehbar. Das ist das untrügliche Merkmal rechter Politik.

Die deutsche Tea-Party ist gerade so christlich wie ihr us-amerikanisches Pendant. Finden sich dort Waffennarren und streng gläubige Christen zusammen, sind es in Deutschland christliche Lebensschützer und völkische Lebensraumideologen. Diese Koalition hält nur deshalb zusammen, weil beide Seiten in der liberalen Mehrheitsgesellschaft ihren Gegner sehen.

Gegner: Liberale Mehrheitsgesellschaft

Beispiel Abtreibungsgegnerschaft: Evangelikale Christen kritisieren die Abtreibungspraxis als Widerspruch zur Heiligkeit jedes Menschenlebens. Völkische Rassisten kritisieren die Abtreibungspraxis als Gefahr für die Erhaltung des deutschen Volkes. Für den Moment haben beide in der Abtreibungsgesetzgebung in Deutschland einen gemeinsamen Skandal gefunden. Inhärente Widersprüche beider Begründungen der Abtreibungsgegnerschaft fallen nicht ins Gewicht oder werden überhaupt nicht wahrgenommen.

Beispiel Familienbild: Evangelikale Christen kritisieren die fortschreitende Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als Widerspruch zur von Gott gestifteten Partnerschaft von Mann und Frau, die vor allem darin ihren Zweck hat, aus beiden Eltern zu machen. Völkische Rassisten wenden sich gegen die Gleichstellung, weil sie Homosexualität als widernatürlich empfinden, hier steht die „Aufzucht“ von Kindern zum Zweck der Volkserhaltung im Zentrum. Auf beiden Seiten tritt eine tiefsitzende Scham vor dem Sexuellen an sich und eine Abscheu vor als sündhaft bzw. abartig empfundenen sexuellen Praktiken hinzu.

Für den Moment haben beide in der liberalen Mehrheitsgesellschaft einen gemeinsamen Gegner gefunden. Dass fundamentalistische Christen Homosexuelle heilen wollen, völkische Rassisten sie aber vernichten oder unschädlich machen, diesen Unterschied auf der Skala des Widersinnigen sehen die Beteiligten scheinbar nicht.

Beispiel Christenverfolgung: Christen schauen besorgt auf die verfolgten Glaubensgeschwister, vor allem in islamischen Diktaturen. Sie wünschen sich, dass diese ihren Glauben ohne Bedrohung leben können und das Evangelium auch in diesen Ländern frei verkündigt werden darf. Völkischen Rassisten kritisieren die Verfolgung von Christen als Genozid der Moslems an den Christen. Das gemeinsame Feindbild ist der Islam. Und zu den Feinden gehören auch all die Menschen, die „den Islam verharmlosen“ und sich für eine „Multikulti-Gesellschaft“ einsetzen.

Wie dieser Tage bekannt wurde, will die AfD genau diesen Themenkomplex zu einem Zentrum ihres Programms machen. Dass ein wirksamer Einsatz für die Rechte der verfolgten Christen die Sorge um die Religionsfreiheit als Menschenrecht einschließt, wird in beiden Gruppen nicht gesehen. Denn natürlich bestreiten sie das Recht der Moslems auf gleiche Rechte hierzulande – wir sind hier schließlich im „christlichen Abendland“. Dass Christen und völkische Ideologen unter diesem Abendland ganz unterschiedliche Dinge verstehen, geht dabei völlig unter.

Glückliche Allianz?

Es spricht nach meiner Einschätzung viel dafür, dass diese deutsche Tea-Party-Bewegung ein langfristiges Phänomen (und Problem) ist. Der stärkste Grund dafür ist, dass die Welt sich immer weiter dreht und nicht plötzlich die Richtung der Rotation wechseln wird. Nach #idpet kam die Flüchtlingskrise und auch nachdem wir diese bewältigt haben werden, wird sich ein neues Thema für diese Allianz der Reaktionäre finden.

Die deutsche Tea-Party wird es solange geben, wie es den rechten Ideologen gelingt, starke Berühungspunkte zwischen einem aktuellen politischen Problem und den traditionellen Themenfeldern evangelikalen Politikinteresses zu finden. Doch es gibt auch gute Gründe für ein baldiges Ende des Zusammenwirkens:

Erstens, sind es im großen und ganzen eben die oben bereits erwähnten Politikfelder Familie, verfolgte Christen und Sexualität, die für viele Evangelikale überhaupt so etwas wie politische Relevanz aufweisen. Andere Politikfelder betrachten sie seltsam unabhängig von ihren Glaubensüberzeugungen und deshalb eben nicht als Evangelikale, sondern z.B. Ost- oder Westdeutsche, Frauen oder Männer, usw. Die deutschen Evangelikalen sind anders als ihre us-amerikanischen Pendants weder stark politisiert, noch verfügen sie wie diese über ein geschlossenes evangelikales Politikverständnis.

Nachdem also als Schreckgespenster die Schwulen und die Moslems ausreichend lange durch das Dorf getrieben wurden, darf man darauf hoffen, dass bei vielen Evangelikalen eine Art der politischen Ernüchterung eintritt. Umso schneller dann, wenn statt einfachen Feindbildern erstzunehmende und differenzierte Argumente die Debatte bestimmen.

Zweitens, darf man auf ein fortschreitendes Lernen der Evangelikalen hoffen. Vielen Evangelikale sind die politischen Konsequenzen ihres Glaubens in einer pluralen, globalisierten Gesellschaft nicht bewusst. Am Beispiel der Mission lässt sich das schön zeigen: Der Blick auf Mission hier in Deutschland und weltweit ist derart mono-dimensional („Menschen zu Jesus zu bringen“), dass die realen politischen Konsequenzen gar nicht in den Blick geraten:

Wie kommt die Mission in mehrheitlich muslimischen Ländern an? Erschwert sie sinnvolle Entwicklungsarbeit gar und bringt die Christen vor Ort in größere Gefahr? Wie wirkt eine radikale Heil hier –> Unheil da-Verkündigung in einer lebensweltlich differenzierten Gesellschaft wie unserer? Stehen sich da die Evangelikalen nicht selbst im Weg?

Ein anderes Beispiel: Vielen Evangelikalen ist gar nicht bewusst, wie herzlos ihre Ablehnung von Homosexualität eigentlich rüber kommt. Und die meisten evangelikalen Familien und Kreise würden wahrscheinlich in der Tat einen Kompromiss in dieser Frage vorziehen, weil sie schon auch viel von Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe halten. Wenn aber ein Mann wie Michael Diener auf diese politische Konsequenz evangelikalen Glaubensdenkens hinweist, wird er vom evangelikalen Establishment eingenordet.

Aus beiden Gründen ist es deshalb besser, die Evangelikalen nicht einfach in „die rechte Ecke“ abzuschieben, wo sich ihr eigener Underdog-Spleen mit dem „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ der politischen Rechten paaren kann, sondern sie stattdessen zum differenzierten Streitgespräch zu bitten.

Kopf vom Fisch

Die weitere Entwicklung haben die Evangelikalen selbst in der Hand und unter ihnen vor allem ihre Anführer. Und das führt zu einem erstaunlichen Problem des Evangelikalismus, das Liane Bednarz ebenfalls identifiziert. Nämlich der für den Evangelikalismus als bibeltreue Bewegung erstaunliche Autoritätsfimmel für alte Männer. Anders als vermutet, spielen für viele Evangelikale die Meinungen von Parzany, Lehmann & Co. gegenüber tatsächlichen Schriftzeugnissen eine bemerkenswerte Rolle.

Das liegt auch daran, dass das kirchliche Leben der Evangelikalen sehr häufig auf den Pastor oder den Prediger zugeschnitten ist. Viel mehr als in anderen christlichen Gemeinschaften steht der Prediger als Lehrer der Gemeinde im Blickpunkt. Er hält zum täglichen Bibellesen an und er erklärt, was da eigentlich geschrieben steht und wie man es in das eigene Leben umzusetzen hat. Und wenn man sein eigenes Glaubensleben z.B. auf ein Bekehrungserlebnis fußen lässt, dann ist es absolut wichtig, wer einen denn zum Glauben geführt oder geredet hat.

Das erklärt ziemlich ausreichend die bestimmende Stellung, die Ulrich Parzany (West) und Theo Lehmann (Ost) im deutschen Evangelikalismus inne haben. Und das erklärt auch, warum die immer gleichen Leute ihnen und der nächsten Generation von Evangelisten immer wieder an den Lippen hängen. Den Teilnehmerzahlen nach müsste ganz Deutschland drei oder vier Mal durchevangelisiert sein, stattdessen finden sich auf den von Parzany, Lehmann, Scheufler & Co. so bezeichneten Evangelisationen immer wieder die gleichen Leute ein.

Dieses Autoritätsproblem wäre politisch völlig irrelevant – wenn auch innerkirchlich, ja theologisch problematisch – würden sich die Stars der Szene auf das beschränken, was sie vorgeben, alleinig zu verfolgen: die Verkündigung des Wort Gottes.

Stattdessen aber sind ihnen in ihre Rhetorik und Theologie Motive der Neuen Rechten eingewandert. Ich hab das jetzt mal bewusst passivisch formuliert, weil ich glaube, dass das den Herren selbst nicht einmal bewusst ist, sondern sie ihre Verkündigung tatsächlich für das Evangelium halten. Beispiele dafür lassen sich mehr als genug in den Veröffentlichungen von Parzany, Lehmann, Scheufler & Co. finden.

Dass der Evangelikalismus von seinen bestimmenden Köpfen her nach Neuer Rechten und Pegida stinkt, das lässt sich nicht leugnen. Die Abwehr reaktionären und rechtsextremen Gedankenguts unter den Evangelikalen muss also mit der Emanzipation von liebgewordenen Autoritäten beginnen.


Kommentare

Eine Antwort zu „Unter Heiden (14): Die deutsche Tea-Party“

  1. […] wurde Anfang des Jahres das Verhältnis der Evangelikalen zur politischen Rechten diskutiert. Hier bin ich Unter Heiden schon einmal ausführlich auf das Thema Evangelikalismus und Politik einge…. Damals habe ich in weiten Teilen des Evangelikalismus Anknüpfungspunkte für eine sich dezidiert […]