Unter Heiden (13): Wo bist Du?

Sachsen und die Sächsische Landeskirche suchen auch nach einem Jahr noch den richtigen Umgang mit Pegida. Inzwischen hat sich die Situation der Flüchtlinge in Sachsen verschärft. Vielerorts sind sie von Gewalt bedroht. Auch Pegida hat sich im letzten Jahr verändert, auch wenn das einige Sachsen nicht sehen wollen. Wie also kann, ja, sollten sich die Landesregierung und die Kirche in dieser Situation verhalten? Und warum fällt es beiden schwer, klare Position zu beziehen?

Versagen der Landesregierung

In Sachsen hat sich die Ankunft vieler Flüchtlinge tatsächlich zu einer Krise ausgewachsen. Daran tragen viele unterschiedliche Akteure Mitverantwortung. Da wäre eine Landesregierung, die ihren Bürgerinnen seit dem letzten Winter wenig Vertrauen entgegen bringt. Kaum ein klares Wort aus Staatskanzlei oder Innenministerium drang zu den wichtigen Fragen in die Öffentlichkeit, keine Erklärungen und sachdienlichen Hinweise: Wieviele Flüchtlinge werden nach Sachsen kommen? Warum steht auch der Freistaat in der Verpflichtung, seinen Teil der nach Deutschland kommenden Menschen aufzunehmen? Wo und wie werden die Flüchtlinge untergebracht? Mit welchen Anstrengungen müssen die Politik und die Zivilgesellschaft auf die Herausforderungen reagieren? Wie sieht der mittel- und langfristige Plan der Landesregierung aus? Wie sollen sich die Bürgerinnen verhalten, die von immer neuen Nachrichten und dem begleitenden Debattenlärm verunsichert sind?

Inzwischen, so macht es den Anschein, geben das Innenministerium und die Kommunen manche Information – wo wird wann eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet? – absichtlich nicht mehr oder extrem kurzfristig an die Öffentlichkeit. Die Verantwortlichen haben offenbar Angst, ihnen würden die Häuser sonst umgehend abgefackelt.

Was gilt in Sachsen?

Doch die mangelnde Informationspolitik der Landesregierung hat zu viel Ärger geführt, so dass heute viele Bürger sich zurecht fragen, ob Sachsen das schafft. Denn von politischer Führung war dieses Jahr bisher nichts zu spüren. Ministerpräsident Tillich befindet sich was klare Äußerungen zur Flüchtlingskrise, den rechtsextremen Gewaltaten und der rechtspopulistisch aufgeladenen Debatte angeht, seit dem Sommer im verlängerten Urlaub.

Die gleiche Führungsschwäche kann man auch der Ev.-Luth. Landeskirche vorwerfen. Zu lange beschäftigte sich die Kirche in diesem Jahr mit Nebenkriegsschauplätzen. Die schwindende Aufmerksamkeit für Pegida im Sommer hat wohl einige politische und kirchliche Verantwortungsträger in falsche Sicherheit gewogen. Anders kann man sich die Überraschung und das ratlose Entsetzen zum einjährigen Jubiläum von Pegida, das mit der Zuspitzung der sächsischen Flüchtlingskrise zusammenfällt, kaum erklären.

Das kirchliche Schweigen muss man nicht entschuldigen, es lässt sich aber wenigstens zum Teil auch dadurch erklären, dass in Sachsen überhaupt nicht mehr klar zu sein scheint, was eigentlich Staatsräson ist.

Welches Wort gilt? Ist es das Wort Angela Merkels? Immerhin Bundesvorsitzende und Kanzlerin der Partei, die in Sachsen seit 25 Jahren Hegemonialmacht besitzt. Ist es das Wort des Ministerpräsidenten Tillich, der sich noch im Frühjahr beeilte, der Kanzlerin in der Frage öffentlichkeitswirksam zu widersprechen, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht. Tillich stellt klar, zu Sachsen gehört er schon mal nicht. Ist es das Wort der Kirchen, die vor allem um Ausgleich und „Dialogbereitschaft“ bemüht sind? Und was ist unter der Bedingung, für jeden offen zu sein, das klare Wort der Kirche?

Glück auf, mein Sachsenland

Es ist dies ein spezifisch sächsisches und in Sachsen vor allem ein Dresdner Problem. Es sind eben Freital und Heidenau, die zu den Orten der ekligsten rechtsextremen Ausschreitungen der letzten zwanzig Jahre geworden sind. Es ist meine Heimatstadt Dresden, auf deren Plätzen jeden (!) Montag das Unsäglichste und Gefährlichste gesagt und getan werden kann. Es tut mir Leid, aber es ist so. Es hat sich eine in sich selbst verkrümmte, lieblich konservative Geisteshaltung durchgesetzt, die den Frieden und die Ruhe jederzeit dem Diskurs und Veränderungen vorzieht.

Wie kann es sein, nur zum Beispiel, dass im vogtländischen Treuen, eine Unterkunft der Diakonie für minderjährige (!) Flüchtlinge nicht eröffnen kann, weil die Mehrheit der gewählten Stadträte aus Angst oder Überzeugung mit den wenigen Rechtsextremen stimmen, und niemand schert sich drum? Kein Bischof, kein Minister taucht vor Ort auf, um den Leuten Bescheid zu stoßen. Der Ortspfarrer erinnert an Leviticus 19,34 und von der AfD schallt es zurück: „Bei uns geht es immer noch nach Tacheles und nicht nach Moses!“ Eine Drecksalternative ist das.

Wie kann es sein, nur zum Beispiel, dass nach über einem Jahr der Sächsischen Landeskirche kein anderes öffentliches Zeichen einfällt, als ihren Mitgliedern zu empfehlen, ab sofort Kerzen in die Fenster zu stellen, um dann hinter den Gardinen weiter zuzuschauen? Wie kann es sein, dass der Ruf vieler Kirchenmitglieder und einiger Pfarrer nach einem klaren Wort so verhallt?

Ich kann den Aufruhr gegen den in der ZEIT empfohlenen „Säxit“ gerade derjenigen Bürger, die sich für die Flüchtlinge und gegen Pegida einsetzen, gut verstehen. Natürlich wurden da und an vielen (digitalen) Orten mehr alle Sachsen in einen Topf geworfen. Das ist nicht angenehm. Aber es ist etwas dran daran, dass Sachsen offensichtlich frei dreht. Das hat auch damit zu tun, dass die Sachsen ihre politische Geschichte des letzten Jahrhunderts nicht aufgearbeitet haben.

Welche Probleme eine Gesellschaft bekommt, die sich über ihre Werte und Ziele nicht mehr verständigen kann, das kann man in Sachsen gut beobachten. Das Gespräch über die Generationengrenzen bricht allenorten zusammen. Doch nicht erst heute. Was macht das mit einem Land, das binnen nicht einmal hundert Jahren vom „roten Königreich“ zu einem der braunsten Länder des Dritten Reichs wurde; das danach die Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung verdauen musste; das Enteignung und Entrechtung während der DDR erlebte; das sich durch das mutige Engagement Weniger vor einem Vierteljahrhundert von der Herrschaft der SED befreien konnte; das in den wirtschaftlich und sozial schwierigen Wendejahren von „König Kurt“ eingeschläfert und seitdem nie geweckt wurde?

Irrlichtende Helden

Darüber wird in Sachsen nicht gesprochen, auch weil Großeltern, Eltern und Kinder diametral entgegengesetzte Zugänge haben, die von jeweils unterschiedlichen politischen Systemen geprägt wurden. Jahrelang hat sich Sachsen auf die freien Subjekte verlassen, die aus sich selbst heraus und in kleinen Gruppen dem jeweils herrschenden Code etwas Eigenes, Neues entgegensetzen konnten.

Ohne diese Menschen hätte es sowohl das lebendige kirchliche Leben in der DDR, die Wende und die anschließende Konsolidierung niemals gegeben. Aber diese Menschen sind alt geworden. Für die Auseinandersetzung in einer immer komplexer und pluraler werdenden Gesellschaft nicht ausgerüstet, suchen sie selbst nach Orientierung, die andere verzweifelt bei ihnen suchen.

Augenfällig wird das an Menschen wie Frank Richter, dem Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Wie soviele der damaligen Akteure Theologe und ein Mann der Kirche. In der gegenwärtigen Lage fallen er und andere in das Verhalten zurück, dass sich zur Wendezeit bewährt hat: Dialog auf Augenhöhe.

Dialog, mit wem?

Doch heute geht es nicht um den Dialog mit einer übermächtigen – weil mit Polizei und Armee ausgestatteten – Staatsmacht, die gleichwohl träumend schlummernd auch Protagonisten hatte, die den Verfall und Zusammenbruch des Systems ahnten. Heute geht es nicht darum, einen geordneten Übergang oder gar einen „dritten Weg“ zu organisieren. Heute geht es darum, zu widerstehen.

Denn die Pegidisten, die sich Richter und andere an ihre (Kirchen-)Tische einladen, sind heute im Herbst 2015 keine besorgten Bürger mehr – wenn sie es je waren -, sondern wenigstens Rechtspopulisten und Selbstdarsteller, die man mit einem Dialog auf Augenhöhe nur aufwertet und in ihrem krankhaften Narzissmus bestärkt; wenn nicht gar Verfassungsfeinde und Rechtsextremisten, mit denen man sich nicht zum Plaudern an einen Tisch setzt, sondern die man auf der Straße, an der Wahlurne, bei jedem einzelnen Kontakt bedrängt, mit den besseren Argumenten, mit einer eindeutig ablehnden Haltung, mit klaren Worten und Taten, die auch verwirrten Bürgern Orientierung bieten können.

Sinnloser, gefährlicher Dialog

Stattdessen erscheint dieser Tage in der Kirchenzeitung der Landeskirche DER SONNTAG ein Doppelinterview mit dem Superintendenten von Dresden-Mitte Christian Behr und Manfred Höntsch, einem christlichen Pegidisten. Auch er Teil der Generation der alten Wendezeitkämpfer. Beim Lesen des Interviews wird deutlich, was das ganz praktische Problem des „offenen Dialogs“ ist.

Da werden Dinge gefordert, die schlicht über das Machbare und den Handlungsrahmen einer Landesregierung, einer Bundesregierung gar, hinaus gehen. An wen richten sich denn die Anklagen und Proteste? Auch nach einem Jahr ist es Pegida nicht gelungen, wenigstens eine an der normativen Kraft des Faktischen orientierte, politisch umsetzbare Forderung zu stellen. Stattdessen lärmt und poltert es und der arme Herr Höntsch hat noch immer nicht begriffen, mit wem und für was er denn tatsächlich auf den Straßen und Plätzen Dresdens marschiert.

Er meint, er sei ein Teil eines breiten bürgerlichen, gar friedlichen Protestes – immer noch. Er kann an Rufen wie „Volksverräter“ (gegen die Politik) und „Lügenpresse“ (gegen die Journalisten) nichts Aussätziges finden – immer noch. Warum aber, frage ich mich, wird ihm und anderen altersstarrsinnig und wirr gewordenen Großdenkern und Verschwörungstheoretikern in Sachsen und auch in der Sächsischen Landeskirche überhaupt noch ein Forum gegeben?

Viel Schaden angerichtet

Die politische und kirchliche Überzeugung, ja einen „offenen Dialog“ ermöglichen zu müssen, hat im letzten Jahr viel Schaden angerichtet. Sie hat die Aufmerksamen unter den sächsischen Bürgern zu tiefst verunsichert, hat Ressentiments und rassistisches Gedankengut hoffähig gemacht, Familien und Freundeskreise zerissen, jene Menschen demoralisiert, die sich trotz aller Widrigkeiten gegen die Rechten und für die Flüchtlinge engagieren und nicht zuletzt und vielleicht am schlimmsten dazu geführt, dass die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft – die Flüchtlinge – sich zuerst auf den Straßen und nun auch in ihren bescheidenen Unterkünften nicht mehr sicher fühlen können.

Dieser Überzeugung liegt ein Bild von der Gesellschaft zugrunde, das man wohl am ehesten mit dem runden Tisch, an den Herr Richter alle Beteiligten am liebsten kriegen würde, beschreiben kann. Das mag zur Wendezeit funktioniert haben, aber unsere Gesellschaft hat sich seitdem verändert.

Heute sitzen wir alle an unterschiedlich großen und kleinen Tischen in einem riesigen Saal. Die Tische sind unterschiedlich reichlich gedeckt, doch wir sehen ganz genau, was sich der jeweils andere gönnen kann. Und die Hausordnung des Saales, die Regeln, an die wir uns alle jenseits unserer persönlichen Tischsitten zu halten haben, wurde heruntergerissen, in Frage gestellt, nicht verteidigt.

Stellt die Hausordnung wieder her!

Es ist die Aufgabe der Politik, diese Hausordnung wiederherzustellen, d.h. Recht und Ordnung auf Basis der Landesverfassung und des Grundgesetzes durchzusetzen. Wo sind die Festnahmen, die Ermittlungserfolge gegen die Brandstifter – die verbalen ebenso wie diejenigen, die Menschen verprügeln, einschüchtern und Häuser in Brand setzen? Zur Wiederherstellung der Hausordnung gehört auch, dass die Regierung ihrem Volk auch gegen den Augenschein vertrauen lernt – das ist eine Demokratie, verdammt noch mal. Wie sehen die politischen Pläne aus, wo handelt die Regierung und wo kann die Zivilgesellschaft helfen?

Die gegenwärtige Landesregierung und an ihrer Spitze Ministerpräsident Tillich haben sich dabei als unfähig erwiesen. Es sind in unserem Land schon Minister und Regierungsschefs wegen weniger zurückgetreten. So oder so wird es Zeit, dass die Regierung politisch Verantwortung übernimmt und sich nicht aus Angst vor der eigenen Wählerschaft ins Hemd scheißt und wegduckt.

Die Aufgabe der Kirche

Zwei Aufgaben sind es, die sich der Kirche – die sich eben an nur einem der vielen Tische wiederfindet, nur ein Akteur in einer pluralen Gesellschaft ist -, jetzt stellen.

Erstens: Sie kann die Suche nach den richtigen Mitteln einstellen, Pegida und der Flüchtlingskrise zu begegnen. Die Mittel wurden bereits gefunden von den vielen Iniativen und Menschen, die Flüchtlingen vor Ort konkret helfen – auch viele Christen und Ortsgemeinden sind darunter. Die Mittel wurden bereits gefunden von den Menschen, die sich der braunen Suppe in Leipzig, Dresden und anderswo auf der Straße lautstark entgegenstellen, ihnen den Weg versperren und so klare Zeichen in die ganze Gesellschaft aussenden: Ihr seid nur eine Minderheit und wir wollen eure Hetze nicht! Die Kirche muss sich nur einmal – in ihrer Gesamtheit – zu diesen anderen Akteuren umdrehen und sich an ihnen ein Beispiel nehmen, sich unmissverständlich an ihre Seite stellen.

Zweitens: Gerade im ach so frommen Sachsen ist es die Aufgabe der Kirche, ihren eigenen Leuten klare Worte zu sagen. An diejenigen, die dem Zauber der Rechtsextremen erlegen sind, ist das ein Wort der Umkehr: Kommt da weg, lasst euch nicht von eurer Angst und eurem Hass besiegen. An diejenigen, die ein Einsehen haben, ist es ein Wort der Vergebung: Wir wissen um deine Verletzungen, um deine Verführbarkeit, weil wir sie auch in uns spüren, darum lass uns Hände halten und gemeinsam in die andere Richtung aufbrechen.

An diejenigen, die sich im letzten Jahr für Flüchtlinge und gegen die Rechten den Arsch aufgerissen haben, ist es ein Wort der Aufmunterung und Bestätigung: Gut, dass ihr da ward, dass ihr solange gelärmt und gequengelt habt, dass wir aufgewacht sind. Ihr habt Recht. Ab jetzt gehen wir gemeinsam. Und an diejenigen, die in einem endlos und zwecklos scheinenden Kampf ihre Körper und Seelen seit Jahren gegen die sächsische braune Flut aufbäumen, muss es eine Bitte um Vergebung sein, dafür dass sie so lange im Stich gelassen wurden.