Jedes Jahr fahre ich mit Freunden zum Reformationsfest nach Wittenberg. Zum Ausflug gehört der Gottesdienst in der Schlosskirche unverbrüchlich dazu. Und auch sonst gibt’s rund um den Reformationstag in Wittenberg immer ne Menge Veranstaltungen und Aktionen, die man wahrnehmen könnte, würde man nicht vom Met-Stand auf dem Mittelaltermarkt magisch angezogen. Wittenberg ist zum Reformationstag definitiv eine Reise wert, das haben ja auch viele Menschen schon begriffen, die Straßen der Lutherstadt sind prall gefüllt mit Besuchern. Spaß macht es trotzdem.
Erste Eindrücke
Doch zurück zu den Gottesdiensten in der Schlosskirche. Ein Teil unserer Gruppe ist immer schon einen gute Stunde vor Beginn des Gottesdienstes da, um gute Plätze freizuhalten. Da bin ich sonst dagegen, aber hier ist es absolut unumgänglich. Und außerdem, bla bla, beschweren tun sich nur die, die eh zu spät kommen. Der Gottesdienst ist multilingual – zumindest ein wenig Englisch und Dänisch wird zumeist gesprochen. Die Predigt aber wird in deutscher Sprache gehalten.
Noch heute erinnere ich mich an meinen ersten Reformationstag in Wittenberg im Herbst 2007. Friedrich Schorlemmer predigte. Sehr engagiert wie immer warf er zu Beginn der Predigt mit Pappkartons um sich, die eine Mauer symbolisierten und ihm den Weg zur Kanzel versperrten. Seine Predigt wurde von In deinen Toren werd ich stehen unterbrochen. Wir sangen nur den Refrain, er ist mir bis heute nicht aus den Ohren gegangen.
Lutherflash
Die Predigten der darauffolgenden Jahre konnten mit dem Furor dieses Einstiegs nicht mithalten. Wenn ich mich recht erinnere, predigten zu meist Bischöfe oder Bischöfe a.D. (oder vergleichbare „Würdenträger“ der evangelischen Kirche), die auf der Kanzel einen Lutherflash erlitten.
Da wurde deklamiert, als ob es an ihnen läge, die Reformation erneut auszurufen. Da wurde auf Zeitgeist und Kirche geschimpft, als ob sie in ihren Funktionen und Ämtern nicht etwas hätten tun können, statt sich so zu echauffieren. Da wurde vor allem die gute alte lutherische Rechtfertigung des Sünders von der Kanzel herabgeplerrt, ohne sich um deren Verständlichkeit und Redlichkeit zu scheren. „Luther sagt …“, „… von Luther können wir lernen …“, „Das ist es, was wir im Glauben ergreifen müssen …“, „Jesus Christus macht uns das Geschenk der Rechtfertigung aller unserer Missetat und Martin Luther gab der Christenheit vor fast 500 Jahren den Glauben daran zurück. Auch wir müssen dieses Geschenk nur annehmen.“ – genug Material für ein Bullshit-Bingo „Reformationstag“ gäbe es.
Was den meisten Predigten fehlte, war ein konsequenter Blick auf die Gemeinde, die Menschen in Wittenberg und ihre Lebenssituationen und damit auch eine Einsicht in die Übersetzungsschwierigkeiten der lutherischen Theologie. Die kann man eben nicht einfach von der Kanzel proklamieren, sie bedarf des Einsprechens in das Leben der heutigen Menschen. Stattdessen bemühen die Gastprediger allzu oft Allgemeinplätze über den entchristlichten Osten, die Säkularisation allgemein und verfolgen auf der Kanzel ihre je eigenen Agenda. Unübersehbar der Stolz, einmal hier gepredigt zu haben. Danke dafür.
Ein feste Burg
Das Gepredige aber wird wohl für die meisten Gottesdienstbesucher weniger ins Gewicht fallen, und auch ich bemühe mich darum. Denn in einer vollbesetzten Schlosskirche zu Wittenberg mit Orgel und Bläsern Ein feste Burg ist unser Gott anzustimmen, vermag auch für eine verunglückte Predigt zu entschädigen. Und meine kleine Predigt ist es eigentlich schon, wenn der amerikanische Pastor die englischsprachigen Teilnehmer begrüßt und ohne es leidend klingen zu lassen, sondern hoffnungsvoll, im us-Slang anfügt: „Ecclesia semper reformanda„.