Kurz vor Weihnachten eine dringende Aufforderung, eine Literaturempfehlung und was zum Anhören. Gepriesen wird das „gefährliche“ Halbwissen. Allgemein wird es ja eher verachtet, vor allem von Mitbürgern, die sich etwas auf ihr Akademikertum einbilden. Ganz im Gegensatz zu diesen Zeitgenossen ist ein gut gepflegtes Halbwissen allemal unterhaltsamer. Gewürzt habe ich meine Gedanken mit Zitaten aus dem hervorragenden (und witzigen) Artikel Sascha Lobos über ein Buch von Botho Strauß (Bonmonts über Günter Grass enthaltend).
Bedroht ist das Halbwissen dieser Tage durch die allgegenwärtige Spickerei in der Wikipedia. Wie soll man noch gescheit herumsimpeln können, wenn der nächste Simpleton einfach sein Smartphone zückt und der Spekulation mit eiskaltem Faktenwissen ein Ende bereitet.
Deshalb an dieser Stelle die dringende Aufforderung, das doch bitte bleiben zu lassen. Stattdessen kann man ja in der Wikipedia tatsächlich mal etwas lernen, anstatt sie nur zum Klugscheissen heranzuziehen und dort auch eine kleine Mikrospende hinterlassen. Allein schon, um beim Anblick des Drücker-Banners nicht in schlechtes Gewissen auszubrechen. Die Wikipedia ist die größte Bastion gegen die allgegenwärtige Kommerzialisierung des Netzes. Sie repräsentiert tatsächlich, was am Internet großartig ist. Allen Kritikern sei gesagt, dass sie zwar (natürlich) nicht fehlerfrei, jedoch hundertmal differenzierter ist, als das was so viele tagtäglich im Internet treiben.
„Nicht, dass man Facebook nicht aus vielen Gründen als „Scheißdreck“ bezeichnen könnte: für die Mischung aus sozialem Teilnahmedruck und offenkundig angeschlossener Überwachungsmaschinerie; für die subtile, aber unerbittliche Normativität, die Facebook sozialen Interaktionsmustern überstülpt, etwa mit der Eindimensionalität des Like oder mit dem Zwang, nur einen Lebenspartner auswählen zu können; oder, alltäglicher als Polyamorie, für die in ihren Auswirkungen noch weitgehend unklare strukturelle Ökonomisierung des Sozialen.“
Lesen kann man nach wie vor auch Bücher. Dietrich Schwanitz, sein Todestag jährt sich zum neunten Mal, nannte seinen Ritt durch die Welt des Wissens und Könnens schlicht „Bildung„. Sicher ist das, was nach Lektüre dieses Buches übrig bleibt, keine umfassende Allgemeinbildung, aber genug, um sich tatsächlich am Gespräch (oder wie das jetzt alle nennen: Diskurs) zu beteiligen.
„Strauß beklagt, dass es keine Avantgarde mehr gebe, kaum noch „neue unzugängliche Gärten“ existierten. Er übersieht, dass es beides gibt. Er hat nur offenbar keinen eigenen Zugang mehr dazu. Und – vielleicht traurig, aber alles andere als neu – die neuen Avantgarden kümmern sich vergleichsweise wenig um das, was Strauß heilig ist. Er vermisst die „Begrenzung des Zugänglichen“ und meint das Netz. Die Begrenzung aber existiert nach wie vor, nur ihre Mechanismen haben sich verändert. Wo früher Mauern, Torwächter und mangelnde Mittel den Zugang begrenzten, erfüllt in der digitalen Sphäre die Datenflut diese Funktion. Für die Zugänglichkeit spielt es kaum eine Rolle, ob eine Nadel im Tresor oder im Heuhaufen verborgen ist.“
Und das ist es, das Gefährliche am Halbwissen. Es ist mehr als Unwissenheit und ermächtigt zu Teilhabe. Da nehmen auf einmal Menschen am Gespräch teil, über die man doch am liebsten paternalistisch hinwegdiskutieren würde. Halbwissen ist eine größere Gefahr für Eliten und Machthaber, als für den Plebs – wenn man es als Aufstieg und nicht als Abstieg versteht. Friedrich Nietzsche (Namedropping!) schrieb den Halbwissenden größere Weisheit – und ein wenig revolutionäre Kraft – zu, als den Besserwissenden. „Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.“ ( Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.)
„Der Info-Demente ist der digitale Wiedergänger des Halbgebildeten von Adorno: „Halbbildung hat das geheime Königreich zu dem aller gemacht“, das hätte man viel eher noch erwähnen können, statt herumzuheideggern. Denn tatsächlich ist das Netz, anders als oft erwartet, zu lange auch von mir erhofft, eben kein Bildungsautomat, sondern, ohne ein epistemologisches Fundament des Nutzers, eine Halbwissenmaschine, die das anstrengende Genre der Besserhalbwisserei hat allgegenwärtig werden lassen.“
Halbwissen a’la Adorno ist nicht per se prima. Demut bei der Anwendung schadet sicherlich nicht. Darum nun zum Schluss etwas zum Anhören. Der große Hermeneut Hans-Georg Gadamer erzählt die Geschichte der Philosophie.