Unter Heiden (10): Der Osten von A bis Z

Kurz vor Weihnachten eine besondere Ausgabe von Unter Heiden. Zum zehnten Mal nun also Nachdenkliches und Derbes über den Osten und die Menschen, die hier leben. Es geht um Vorurteile, Lebenserfahrungen und Perspektiven. Es geht um Arbeit, Leben und Glauben. Zum Jubiläum ein kleines Lexikon über den Osten und seine Bewohner.

Bananas
Symbolbild („Bananas“ von Steve Hopson)

A abgehängt
Zutreffende Beschreibung einiger Regionen, Gruppen und Einzelpersonen im Osten. Häufige mediale Zuschreibung für die →Ossis. Auch: Selbstwahrnehmung älterer Bürger mit starker DDR-Identifikation und junger Menschen, die ohne Bildung, Job oder Perspektive sind.

B Banane, die
Symbol für die Mangelwirtschaft der DDR. Die B. wird noch heute gerne als Aufhänger für →Ossi-Bashing benutzt. Gibt es seit einem Vierteljahrhundert an jeder Straßenecke. Hat als Metapher für den Osten ausgedient.

C CDU, Block-
Politisches Sammelbecken der DDR für Leute, die zu christlich waren, um in die SED eintreten zu wollen, aber trotzdem in eine Partei wollten/mussten. Feigenblatt des Einparteienstaats („Blockflöten“). Durchseucht von Mitarbeitern der Staatssicherheit (→Unterlagen). In der Wendezeit von der West-CDU aufgemöbelt und als Wahlkampfmaschine betrieben. Sicherte der CDU den Zugriff auf die Regierung in Sachsen und Thüringen. Wird immer dann aus der Mottenkiste geholt, wenn die CDU ehemalige SEDler (→LINKE) oder Bürgerrechtler kritisiert.

E Eisenhüttenstadt
Erste sozialistische Stadtneugründung im östlichsten Osten des Ostens. Früher „Stalinstadt“, heute Lieblingsausflugsort von Tom Hanks (siehe hier).

F Freiheit
Für die F. haben Bürgerrechtler und im Herbst 1989 viele Bürger der DDR gekämpft. Bekommen haben sie Einigkeit und Recht und F.. Das ist mehr, als sich viele im Frühjahr 1989, als es gegen die gefälschten Volkskammerwahlen ging, erhofft haben. Aber eben auch nicht ganz das, wofür einige kämpfen wollten („Dritter Weg“, Sozialismus mit menschlichen Antlitz). Heute genießt der Ossi die F., auch wenn er gelegentlich über so manches schimpft, was man halt so mitkauft, wenn man sich die F. erwirbt.

G Grebe, Rainald
In Köln geborenener Kabarettist, Liedermacher und Betroffenheitslyriker. Einer der vielen →Wessis, die nach der Wende ihr Glück im Osten fanden (Jena Paradies). Siedelt heute im Brandenburgischen. Seine Länderhymnen über die ostdeutschen Bundesländer sind legendär: sie nehmen den Osten auf die Schippe, sind aber eigentlich Liebesbriefe. (sieh und lausch: Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Doreen aus Mecklenburg)

H Heiden, die
Christlicher Kampfbegriff für Andersgläubige, Synkretisten und Häretiker. H. suchen sich ihre Weltanschauung selbst zusammen. Die H. setzen sich u.a. aus Atheisten, Agnostikern, Konfessionslosen, Konfessionsfreien und Kirchenmitgliedern unterschiedlicher Denomination zusammen. H. ist ein wissenschaftlich ungenauer Begriff. Diese Kolumne unternimmt den Versuch (→Freiheit), den Begriff positiv umzudeuten.

K Klöße, Thüringer

L LINKE, die
Nachfolgerpartei der PDS, die ihrerseits Nachfolgerpartei der SED war. Inzwischen gibt es auch einen radikalen Ableger in den gebrauchten Bundesländern. Flächendeckend die zweitstärkste politische Kraft in den neuen Bundesländern. Lebt nach wie vor vom Vermögen der ehemaligen SED, deren Altmitglieder ihr langsam wegsterben. Daher ist die L. vom Aussterben bedroht. In den Kommunen und Bundesländern im Osten regiert(e) sie zumeist verantwortlich mit. Seit Herbst 2014 ist Bodo Ramelow (Christ, Gewerkschafter, →Wessi) in Thüringen erster Ministerpräsident der L. im Nachwende-Deutschland. Dies führte zu starker Kritik durch Angela Merkel und die CDU (→Block-CDU) und Bundespräsident Joachim Gauck (→Unterlagen).

M Mutti
Kosename für die Mutter, häufig im Gegensatz zum westdeutsch gebrauchten „Mama“. Unterscheidung ist aber Bullshit, weil M. auch im Westen und Mama auch im Osten gebraucht wird. Taugt nicht als Parallele zu „Spüli“ (Westen) und „Fit“ (Osten). Euphemismus und herabwürdigende Liebkosung für Angela Merkel (→Block-CDU).

O Ossi
Chiffre für rückwärtsgewandten Versager, putzigen Dialektinhaber, lebensuntüchtigen →Abgehängten. Aber auch liebliche Selbstbeschreibung. Allgemein: Bezeichnung für einen Mitmenschen mit Wurzeln in der DDR oder in den neuen Bundesländern.

P Polizeiruf 110
Der bessere Tatort kommt heute u.a. aus Rostock, Brandenburg, Magdeburg und München. Die DDR-Krimireihe ist eine der wenigen DDR-Fernsehsendungen, die erfolgreich bis heute bestehen.

S Solidarität
Früher „Hoch die internationale S.!“, heute häufig vermisste gesellschaftliche Tugend. Gerade ältere →Ossis vermissen die gelebte S. in der DDR. Es ist fraglich, was damit gemeint ist: Das gegenseitige Aushelfen in der Mangelgesellschaft? Das Zusammenstehen der Belegschaft (Kollektiv) eines Betriebs? Wurde nach Einschätzung der →abgehängten O. von den Wendegewinnern aufgegeben.

U Unterlagen, die Stasi-
Weltweit einmalige Form der Vergangenheitsbewältigung: die Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatsicherheit (kurz Stasi) stehen Opfern, Tätern und der Öffentlichkeit zu Verfügung. Darum beneiden uns viele Menschen aus den anderen ex-sozialistischen Ländern. Es sind bisher 39 Millionen Karteikarten und 111 Kilometer Akten aufgefunden worden. In der Stasi-U.-Behörde werden außerdem 1,75 Mio Fotografien, 2.800 Filme und Videos sowie 28.400 Tonbänder verwahrt. Darüber hinaus existieren noch rund 15.500 Behältnisse mit bisher ungesichtetem, zerrissenem Schriftgut (von hier). Mehr als 20 Jahre nach Einrichtung der Stasi-U.-Behörde ist das Interesse an der Akteneinsicht weiterhin groß. Insgesamt 6.916.770 Ersuche und Anträge gingen von 1992 bis Ende 2013 beim BStU ein, darunter über 3 Millionen Anträge von Bürgern auf Auskunft, Akten-Einsicht und Herausgabe (von hier). Bis 2019 soll die Behörde weiter wie gewohnt arbeiten. Wie wird es danach weiter gehen?

W Wessi
Euphemismus für kapitalistischen Megastreber, zynische Heuschrecke, politischen Besserwisser („Besserwessi”). Wird als Selbstbeschreibung weitgehend abgelehnt. Allgemein: Bezeichnung für einen Mitmenschen mit Wurzeln in der alten Bundesrepublik oder den gebrauchten Bundesländern – wichtig – ohne Migrationshintergrund (→Xenophobie).

X Xenophobie
Intellektuellenslang für Fremdenfeindlichkeit. Ist der Osten xenophob? Man weiß es nicht. Sicher, hier gibt es eine Menge Nazis. In der DDR durfte über Alt- und Neonazis nicht gesprochen werden. Es gab sie nicht, wie es so einiges offiziell nicht geben durfte. Nach der Wende nutzen dann auch sie die neugewonnene →Freiheit und eroberten die Öffentlichkeit. →Abgehängte Jugendliche ließen sich in den 90er-Jahren und auch heute noch auf die Propaganda von Rechts ein. In allen ostdeutschen Bundesländern saßen rechtsextreme Parteien in den Landesparlamenten, inwzischen nur noch in Meck-Pomm. Aber: Nazis gibt es gerade auf dem Land noch überall. So trat die NPD seit der Jahrtausendwende immer mehr als Kümmererpartei auf, die in die Lücken vorstieß, die die Streichungen von Fördermitteln gerade im Bereich der Jugendarbeit rissen. Das Nazi-Problem im Osten ist hausgemacht. Und wie schaut es mit der restlichen Bevölkerung aus? Der Ossi muss sich an ein vielgestaltiges, multikulturelles Land erst noch gewöhnen. Das fällt ihm vielleicht manchmal schwer, gerade weil es hier so wenig Ausländer gibt. Ohne Wissen und Kontakt blühen die Vorurteile. Doch es gilt auch: kaum irgendwo sonst im geeinten Vaterland wird so genau auf die Nazis geachtet, die antinazistische Zivilgesellschaft ist erwacht.

Z Zuhause
Ich bin hier zu Hause. In zwei der schönsten Städte, die unser Land zu bieten hat: Dresden und Halle. Ich bin manchmal besorgt und manchmal stolz auf das, was es hier gibt oder entsteht. Ich bin nicht mehr an den Osten gebunden, ich könnte jederzeit gehen. Aber ich bin Ossi. Meine Vergangenheit und die meiner Familie spielen hier zwischen Oderbruch und Elbe und diese Vergangenheit hat auch mich geprägt. Ich sehe auch meine Zukunft hier unter den Heiden, den Rückwärtsgewandten, den Kaffee-Sachsen, Bratwurst-Liebhabern, Börde-Bewohnern, Seenplatten-Menschen. Das ist eine politische und eine ästhetische Entscheidung. Denn hier leben sie, die Heimat-Liebhaber, die Nazi-Bekämpfer, die Gott-Befrager, die Bescheidenen, die Normalo-Menschen. Und ich auch.

Bis zum nächsten Unter Heiden im Jahr 2015!


Einmal im Monat schreibe ich unter dem Titel Unter Heiden auf theologiestudierende.de über meine ostdeutsche Heimat. Etwas später erscheinen die Artikel hier auf meinem Blog. Es geht um Vorurteile, Lebenserfahrungen und Perspektiven. Es geht um Arbeit, Leben und Glauben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert