Rezension „Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand“ von Harald Welzer

Hast Du Angst vor der Zukunft oder hast Du noch Hoffnung? Wer die Gegenwart verändern will, sollte sich nicht allzu sehr vor dem Morgen fürchten. Doch gerade das fällt angesichts gewaltiger Aufgaben wie dem Klimawandel, der Überbevölkerung der Erde, Kriegen und Krisenherden auch in der europäischen Nachbarschaft schwer.

Viele Menschen, die es sich leisten können, beschäftigt inzwischen immer mehr die Frage „Wie will ich morgen leben?“. Am Beginn der Lebensveränderung steht die Ermächtigung zum eigenen Denken und Handeln. Das Thema der diesjährigen Ausgabe der Fastenaktion „7 Wochen ohne“ ist zeitlos. Der Wissenschaftler Harald Welzer schrieb 2013 seine Anleitung zum Widerstand, eine dringende Auffoderung zum Selberdenken.

Gleich zu Beginn, um Missverständnissen vorzubeugen: Bei Welzers großartigem und unterhaltsamen Sachbuch handelt es sich nicht um einen Ratgeber im engeren Sinn. Schon gar nicht um irgendein simplifizierendes Machwerk der Lebensberatungsbranche. Im Gegenteil: Selten wurde zugleich so klug und engagiert und witzig über unsere (mögliche) Zukunft geschrieben. Welzer nimmt eine durchaus hoffnungsvolle Haltung der Zukunft gegenüber ein. Von ihr aus will er denken. Nicht von der Vergangenheit, denn gerade dies führt zu Stillstand und Verzagtheit im Blick auf die Probleme unserer Zeit.

Harald Welzer ist im besten Sinne Zukunftswissenschaftler. Er gründete und leitet die FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und ist Professor für Transformationsdesign an der Uni Flensburg. Was zuerst reichlich esoterisch klingt, entpuppt sich als genau die richtige Perspektivenmischung aus historischer Fachkenntnis und prophetischer Verve. So beschreibt es Hilal Sezgin in ihrer Rezension für DIE ZEIT. Ihr ist Recht zu geben.

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Was schlägt Welzer nun vor? Selbst denken ist der Ursprung eines neuen, phantasievollen eigenen Handelns. Das Selbstdenken folgt automatisch daraus, dass wir Menschen uns als Menschen mal wieder richtig ernst nehmen sollten. Am Besten lässt sich das neue Handeln in Gruppen erproben und leben. Resilienzgemeinschaften nennt Welzer diese Basisgruppen der Weltveränderung. Das kennen wir natürlich schon: „Zwei sind besser als einer allein […] denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf, doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet. Und wenn jemand einen Einzelnen auch überwältigt; zwei sind ihm gewachsen.“ – Kohelet 4, 9-12

Trotzdem, Welzer richtet sich mit dieser Erinnerung an die Kraft der (Klein-)Gruppe, ja an Individualisten jeglicher Couleur, die sich beständig fragen, warum sich trotz ihrer Bemühungen nichts ändert. Für diejenigen, die sich für Experten der Gemeinschaft halten, steckt darin natürlich auch Anspruch. Anspruch, aus den Beisammenseienden auch Handelnde zu machen.

Vorschläge für erneuertes Handeln zu geben, dass nimmt sich Welzer mit seinem Buch ganz heftig vor. Ob die Rettung der Welt tatsächlich mit Graswurzelbewegungen, Ökologie und Genossenschaftswesen gelingt? Gerade von theologischer Seite könnte man hier natürlich einhaken. Aber seinen Optimismus möchte ich Welzer nicht vorwerfen, denn er ist ihm abzunehmen. Es geht ihm tatsächlich nicht um Oberflächenkosmetik am spätkapitalistischen System, darum die Welt „ein kleines Bisschen schöner“ zu machen, sondern um wirkliche Umwälzung. Das zeigt seine Gegenwartsanalyse. Allein ihretwegen ist das Buch lesenswert.

Das Buch ist 2013 erschienen, Welzer stellte es auf der Leipziger Buchmesse im vergangenen Jahr ausführlich der Öffentlichkeit vor. Entstanden ist so z.B. das unten stehende Interview von literaturcafe.de. Im Februar 2014 erschien das Buch als Taschenbuchausgabe für den kleinen, studentischen Geldbeutel.

Selbst denken:
Eine Anleitung zum Widerstand
Harald Welzer
S. Fischer Verlage
9,99 € (Taschenbuch und E-book)
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