Ich sitze an meinem Schreibtisch, Jakob kämpft am Jabbok. – Predigt vom 12. Oktober 2014

Die folgende Predigt habe ich am 12. Oktober 2014 in Halle-Diemitz und der Christuskirche in Halle gehalten. Predigttext war der Kampf Jakobs am Jabbok Gen 32, 23-33.

I

Dies ist ein alter Text. Ich sitze am Abend an meinem Schreibtisch, an meinem Laptop und schreibe, schreibe diese Predigt. Dies ist ein alter Text, in den Generationen eingetragen haben. Gekritzelt, verfälscht, erweitert, geklärt, weiter- und fortgeschrieben, angepasst, aktualisiert. Heute ist es an uns, einzutragen. Wo ist die Leerstelle zwischen den Schichten, wo die Lücke im zerrissenen Text?

Dies ist ein alter Text. So alt, dass er die frühesten Vorstellungen der Menschen von Gott in sich trägt. Man nennt sie die Vorstellungen der Heiden. Wir können sie noch heute erkennen, trotzdem sie über die Jahrhunderte, Jahrtausende verschleiert und umgedeutet wurden. Es ist eine gefährliche Vorstellung von Gott; eines Gottes, der sich als Angreifer in den Nacht nähert, der verletzt, der über den Menschen siegen will.

Es ist ein alter Text, aber es ist alles da. Für den, der sich auf alte Symbole versteht und seinen Geist noch offen hält. Es ist ein Text der Heiden, die wenig von der Welt wissen und an einen Gott nicht glauben. Die aber Zeichen lesen. Die wissen, was es heißt, auf Wanderschaft zu sein, was es heißt, einen Fluß zu überqueren, im Dunkel der Nacht zurückzubleiben.

II

Ich sitze an meinem Schreibtisch, Jakob, der Lügner, der Betrüger, der Betrogene ist auf der Flucht und auf dem Heimweg. Er kehrt zurück zu Esau, seinem Bruder, dem er dereinst den Segen stahl, er kehrt zurück von Laban, seinem Onkel, dem er die Töchter abrang. Er kehrt zurück in seines Vaters Land als reicher Mann, doch im Unfrieden. Wie wird sein Bruder ihn empfangen, nach all den Verletzungen, nach all den Jahren? Es gibt kein Zurück mehr und das Morgen ist ungewiss. Er steht am Jabbok, allein. Allein in der Nacht.

Der Fluß, er trennt Tod vom Leben. Die Erlaubnis überzusetzen muss erkämpft werden. Der Fluß trennt Gewesenes vom Kommenden. Du musst hindurch, nicht trockenen Fußes. Was dich am anderen Ufer erwartet, erkennst Du von hieraus nur in rätselhafter Gestalt, wie durch einen Spiegel hindurch: dein Bruder, der dir vergibt, dich küsst und in seine Arme schließt. Versöhnung, Vergebung. Oder Ablehnung und Hass: das Gesicht deines Bruders wutverzerrt, das Schwert in der Hand erhoben, bereit auf dich herab zu sausen.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, Jakob steht am Jabbok. Wer zu seinem Jabbok zieht, der erzwingt die Entscheidung, der will zurückkehren, Heim kommen, Vergebung und Versöhnung. Frieden machen mit denen, die er verletzt hat. Frieden machen mit sich und dem eigenen Weg. Wer zu seinem Jabbok zieht, der will Klarheit und Ehrlichkeit. Der will nicht mehr Jakob, der Lügner heißen. Wer an seinen Jabbok zieht, der will Buße tun, Abbitte leisten, weil er es sonst nicht mehr aushält in den Kämpfen seiner Nacht. Wer an den Jabbok zieht, ist schon auf dem Weg zu seiner Erlösung.

III

Ich sitze an meinem Schreibtisch, Jakob steht am Jabbok. Mit nichts in seinen Händen, gewahr, dass ihn der Fluß und die Nacht das Leben kosten können; er in seiner Nacht erfriert, die Wärme anderer Menschen nicht spürt; im Fluß ersäuft, ohne aus ihm wieder aufzustehen. Dieser mutige, mutige Mann, der sich seinen Ängsten, seiner Schuld, seinen Dämonen stellt.

Die Nacht ist Dämonenzeit. Was in ihr geschieht, bleibt verborgen. Die Nacht ist manchmal unerträglich, ihre Stille, ihre Einsamkeit. Dann will ich ein Licht anzünden, die Nacht zum Tage machen. Nicht allein sein, sondern unter Vielen. Nicht in der Stille grübeln, sondern Lärmen und meine Ängste, meine Schuld, meine Dämonen in die Flucht schlagen.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, eine Lampe brennt und auf dem Esstisch eine Kerze. Jakob steht am Jabbok, in der Nacht, doch nicht allein, zu ihm kommt ein Mann.

Er ist gekommen, um zu kämpfen. Er schlägt um sich, er will zerstören, siegen. Er weicht nicht, auch nicht vor dem unbekannten Angreifer. Sie ringen miteinander in der Tiefe der Nacht. Und Jakob spürt, dass dieser Kampf sein Leben fordert. In der Nacht kommt an den Tag sein Licht und im Tod wird das Leben neu.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und dieses Osterlied legt sich mir auf die Lippen. In der Nacht kommt an den Tag sein Licht und im Tod wird das Leben neu. Vor was renne ich davon, und welcher Heimat strebe ich zu? Welchen Gegner fordere ich zum Kampf? Und es wird unbedeutend, mit wem Jakob kämpft, Gott, einem Dämon, einem Engel. Er kämpft mit sich selbst, gegen sich, gegen seine Vergangenheit und Gegenwart und um seine Zukunft. Und wenn es auch Nacht ist, so kann es auch am Tage finster um mich und in mir sein. Und wenn sie auch am Jabbok kämpfen, so könnte es auch an jedem anderen Fluß geschehen. Die Frage ist allein, ob ich wirklich an meinen Jabbok ziehe, meine Nacht aushalte. Die Frage allein ist, ob ich wirklich kämpfe. Natürlich passiert es in meinem Kopf, aber warum um alles in der Welt sollte das bedeuten, dass es nicht wirklich ist.1

IV

Ich sitze an meinem Schreibtisch, Jakob kämpft am Jabbok. Und kostet der Kampf auch nicht sein Leben, so fordert er seinen Tribut. Eine bleibende Verletzung, eine offene Wunde. Erinnerung an den Kampf, Mahnung an die Zukunft. Ausgerenkt, zum Weiterhumpeln verurteilt, doch immerhin weiter. Es ist ein Riss in jedem Ding, so kommt das Licht hinein.2 Es ist die Wunde, ist der Riss in seiner Seele, der ihn aufmacht. Als Beschädigter gezeichnet wird er weiter ziehen, der Versöhnung entgegen. Und durch seine Wunde, durch die fliehende Nacht bricht die Morgenröte an.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, Jakob kämpft am Jabbok. Und er zwingt den Fliehenden. Er zwingt seine Vergangenheit und Gegenwart, erzwingt sich eine Zukunft. Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn. Seine Ängste, seine Schuld, seine Dämonen wollen weichen und doch zwingt er sie, er ringt ihnen den Segen ab. Und das ist viel mehr als ein Licht anzuzünden, um die Dunkelheit zu verscheuchen, eine Lampe oder eine Kerze auf dem Esstisch. Meine Dunkelheit, meine Angst und Schuld gehören zu mir. Ich lasse sie nicht, nicht bevor sie Segen spenden. Nicht bevor aus meinen Wunden der Segen tropft, mir in meiner Angst Mut wird, die Dunkelheit sich verkehrt und meine Schuld vergeben ist.

Wie heißt Du?

Jakob, der Lügner, der Betrogene und Betrüger, der flieht und nach Hause kommen will. Der seine Schuld kennt, sie in seinem Namen trägt.

Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel – Gott kämpft.

Und er nannte die Stätte seines Kampfes Pniel, das heißt Angesicht Gottes. Und als er an Pniel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf. Ich klappe meinen Laptop zu und lösche die Lampe. Jakob zog zum Jabbok, er zieht fort von Pniel. Wer an den Jabbok zieht, ist schon auf dem Weg zu seiner Erlösung. Wer seine Angst und Schuld zwingt, der wird am Morgen von Pniel aufbrechen.

Amen.


Diese Predigt habe ich in Halle-Diemitz und der Christuskirche in Halle am 12. Oktober 2014 gehalten.

1) Albus Dumbledore, King’s Cross, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes von Joanne K. Rowling
2) Leonard Cohen “Anthem” (“There is a crack in everything. That’s how the light gets in.”), gelesen bei Father Richard Rohr, Übersetzung von mir

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