Das neue Israel – Gedanken zum Shoah-Gedenktag am 27. Januar

Herr, du gabst unsern Vätern deinen guten Geist, um sie zu unterweisen.
Nehemia 9,20

Das Christentum sei das neue Israel. Israel, dass ist nicht nur der Zweitname Jakobs, den er am Jabbok erhält, als er in Richtung Pniel aufbricht. Israel, das ist sein Volk, das sind seine Nachkommen, unsere Vorfahren im Glauben. Die Frage des wahren Israel wurde in der Kirchengeschichte immer wieder gestellt. Erst nach der Shoah und dem 2. Vatikanischen Konzil auf Seiten der röm.-kath. Kirche hat die Kirche als Ganzes (Ausnahmen gibt es bis heute!) einen neuen Weg an der Seite des Judentums eingeschlagen und so vielleicht wieder zu dem zurückgefunden, was Paulus schon im Brief an die Gemeinde in Rom schrub.

Es widerstrebt mir, über die Leidensgeschichte der Juden zu sprechen. Nicht, dass es nicht wichtig wäre, gerade am heutigen Tag. Aber ich will das Judentum nicht ständig aus den Augen des Christen betrachten, der nach Jahrhunderten nichts anderes tun kann, als Abbitte zu leisten. Sehe ich die Juden dann nicht wieder und abermals nur als Opfer einer Geschichte, die von Christen gemacht wird und die ich weitererzähle?

Da fällt mir das Geprahle vom “jüdisch-christlichen Abendland” ein, was für ein Quatsch. Diese Wortpaarung suggeriert ja Partnerschaft und Einmütigkeit. Wenn aber, dann ist die Geschichte des Abendlandes eine Geschichte auch der Verbrechen an den Juden und ihrer Unterdrückung bis hin zur fast völligen Ausrottung während der Shoah.

Man muss froh darüber sein, meine Generation sollte es, ich bin es: Über jedes Samenkorn des Jüdischen soll sich gefreut werden, das uns in Europa und Deutschland noch geblieben ist. Wegen ihrer einmaligen Geschichte, Kultur – des Witzes, des Essens und der Musik wegen – wegen ihres Denkens und Glaubens, wegen ihrer Bibel und dann auch zuletzt, weil ihr Leben hier in Europa uns genauso wie jedes Flüchtlingsschicksal an die andere Seite der Geschichte erinnert, die die Mehrheitsgesellschaft noch nie zu sehen vermochte.

Das Christentum sei das neue Israel. Wenn überhaupt, dann sind wir damit vollumfänglich und fürchterlich gescheitert. Wenn überhaupt, bedeutete neues Israel zu sein, sich an den Rand zu stellen.

Das Christentum sei das neue Israel. Ist es nicht so, dass in der Bibel – dem „alten“, wie dem „neuen“ Testament – jede Verheißung einer Gruppe, einer Gemeinschaft gilt? Erst dem Volk, ganz Israel, dann auch den Christen, die sich in diese Tradition stellen? Gelten die Verheißungen Gottes gar nicht mir kleinem Individuum – zumindest nicht alleine -, sondern nur mir als Teil einer größeren Gemeinschaft, eines Volkes der Gottsucher und Wandernden? Gibt es Gottes Verheißungen im doppelten Sinne nur im Plural?

Es scheint mir schon so zu sein, dass der christliche Widerwille, Anderes oder mehr als die eigene Verkündigung gelten zu lassen  – paradigmatisch am Beispiel der Ablehnung der Synagoge gezeigt, wenn auch nicht darauf begrenzt – seinen tieferen Grund in der Schwierigkeit des Menschen hat, mit Differenz und Polyphonie umzugehen. Was den Christen ihr wahres Israel war (und ist), das ist manchen eben die „abendländische Kultur“, das Deutschtum, die Ruhe und Ordnung – jedenfalls das, neben dem nichts anderes denkbar und lebbar erscheint.

Sich dieser Eintönigkeit – vielmehr dieses stahlharten Dualismus – zu erwehren und dagegen vorzugehen, erscheint mir eine wichtige Aufgabe jeder Religion, gerade weil sie in ihrer je eigenen Tradition genug „Material“ mitträgt, dass unvermeidliche Verletzungen und Reibungen auffangen, erklären, einordnen kann. Religion kann Differenz erträglich machen und Polyphonie ausdeuten.

Erdal Toprakyaran schreibt: „Eine Ökumene aller Religionen und Weltanschauungen bedarf mutiger Menschen, die das Feld nicht Tyrannen überlassen. Wir brauchen Poly-, Mono- und Atheisten, die den Stein des Sisyphos gemeinsam stemmen und einander nicht beschuldigen, wenn er auf der anderen Seite des Berges hinabrollt. Gewiss gibt es eine Wahrheit hinter allen Wahrheiten, die in absurd anmutenden Augenblicken unser hastiges irdisches Treiben transzendiert und uns ermuntert.“

Sonntagabend bei Anne Will – Zwei Schwarze, ein Bischof und Trixi von der AfD

Gestern Abend lief viel beachtet die Talksendung Anne Will im Ersten zum Thema: “Vorbild Österreich – Braucht auch Deutschland eine nationale Obergrenze?”. Eins vorweg: Ich habe die Sendung gar nicht gesehen. Vielmehr habe ich sie fast ausschießlich gehört, weil ich nebenbei twitterte. Und weil ich auf dem Notebook viel schneller schreiben kann als auf dem Smartphone, wurde aus dem Second-Screen also ein Hörspiel. „Sonntagabend bei Anne Will – Zwei Schwarze, ein Bischof und Trixi von der AfD“ weiterlesen

3 x Moment mal, 1 x Lesenswert & 1 x Herzeleid

Wie bereits im September angekündigt und durchgeführt, veröffentliche meine Moment-mals auf theologiestudierende.de hier auf dem Blog nicht noch einmal komplett, sondern fasse sie in unregelmäßigen Abständen zum Zwecke der Archivierung in einem Artikel inkl. kleiner Ausschnitte zusammen.

Alte Männer (vom 5. Oktober 2015)
“Alle drei [Corbyn, Sanders, Bergoglio] begeistern jene Generation der 18- bis 35-Jährigen, die im anglo-amerikanischen Raum gerne als Milliennials bezeichnet werden. Es ist gerade auch diese Generation, die die enge Bindung ihrer (Groß-)Eltern an die Kirche nicht mehr leben. […] Dass auch hierzulande junge Menschen Ü18 ohne Kind kaum einen Platz in den Gemeinden finden, geht leicht unter. Was ließe sich von den Dreien denn für die Situation der Kirchen in Deutschland und die der politischen Parteien unisono lernen?”

Mutter (vom 2. November 2015)
“Die Überzahl der Kandidaten [für den Rat der EKD] wurde zwischen 1955 und 1965 geboren. Für diese Zielgruppe werden in Deutschland Magazine mit so klingenden Namen wie LebensLauf, Öko-Test und Landlust vollgeschrieben. Erstaunlich, die Anzahl möglicher Liebhaber der Apotheken-Umschau im Segment der Ü65-Jährigen ist ebenso unterrepräsentiert. Der älteste Kandidat ist der Boehringer Ingelheim-Boss Andreas Barner (*1953).”

Das alte Leid (Lesenswert vom 14. November 2015)
“Anfang der Woche tagte in Bremen wieder einmal die EKD-Synode. Neben wichtigen Stellungnahmen – u.a. zum Rechtsextremismus und der Situation der Flüchtlinge – stand vor allem die Wahl des neuen Rates der EKD auf der Tagesordnung. Auf Probleme mit der Kandidatenliste wurde im Vorfeld der Synode schon hingewiesen. So gerieten die mangelnde Vertretung Ostdeutschlands und vor allem die mangelnde Repräsentanz junger Menschen in den Fokus.”

Herzeleid – wider die Angst? (vom 14. November 2015)
“Solidarität und Trotz sind es, die wir bereits zu Beginn dieses Jahres an den Parisern und ein wenig ja auch an uns selbst bewundert haben. Gute, vielleicht die besten Regungen, zu denen Menschen fähig sind. Doch Solidarität kann, wenn sie sich nur aus Angst speist, umschlagen in Ab- und Ausgrenzung, und Trotz sich verkehren in Wut und Vergeltung.”

Ohne dich? (vom 7. Dezember 2015)
Decisions are made by those who show up. Dieser Satz stammt von Aaron Sorkin, dem preisgekrönten Autor der Fernsehserien The West Wing und The Newsroom, die sich vor allem mit der politischen Sphäre der Vereinigten Staaten auseinandersetzen. Entscheidungen werden von denen getroffen, die auftauchen. Show up. Entscheidend sind die Leute, die sich zeigen, die sichtbar machen, wofür und mit wem sie stehen.”