Unter Heiden (17): Luthers Murmeln

“Jesus ist als Mensch gekommen, nicht als Wort oder Rock oder Socke”, möchte ich Andreas Öhler entgegnen, der in seiner Polemik in der Christ & Welt den Protestanten eine Sehnsucht nach Rosenkranz, Reliquie und Luther-Verehrung vorwirft. Die Protestanten haben sich gefälligst an das karge Wort zu halten. Höchstens dürfen sie es sich mit ein wenig Gemeindeblümchenkaffee herunterwürgen. Wie freudlos!

Der Autor bedient sich einer recht altertümlichen Unterscheidung, nach der der Kopf den Protestanten, das Herz aber den Katholiken gehört. Zum christlichen Glauben gehört aber Beides: das Wort und die Tat, das Denken und die Berührung. Wenn also die Protestanten die handgreifliche Seite ihres Glaubens neu entdecken, kann ich darin nichts Schlechtes sehen. Man wird sich nach 500 Jahren auch mal anders entscheiden dürfen.

Öhler beklagt vor allem, dass die Protestanten vom kargen Wort allein nicht mehr satt werden. Doch war das jemals der Fall? Und wirft er nicht in seiner Suada Dinge durcheinander, die der Sache nach nichts oder nur wenig miteinander zu tun haben: Das Luther-Bohei rund um das Reformationsjubiläum im kommenden Jahr und so etwas wie ein unbestimmtes Unbehagen im Angesicht des Spiritualitätsbasars?

Neuer Protestantismus?

In Eisleben knien vor dem Taufstein Luthers in der St.-Petri-Pauli-Kirche also amerikanische Protestanten nieder und küssen ihn gar. Und in den neugeschaffenen Taufbrunnen lehnen sie viele Besucher herab, um sich mit der vom Taufwasser benetzten Hand zu bekreuzigen. Wie passt das zum kargen Protestantismus lutherischer Prägung?

Foto: Taufbrunnen inkl. Hochzeitsschmuck in der Petripaulikirche
Taufstein und Taufbrunnen in der St. Petri-Pauli-Kirche zu Eisleben, Foto: Zentrum Taufe

Es passt nicht. Doch wie Öhler ganz richtig schreibt, hat noch keine Konfession überdauert, die sich gegen den Volksglauben immunisiert. Wer Luther heute liest, würde auch nie auf die Idee kommen, er wäre gegen alle Sedimente des Volksglaubens vorgegangen. Ein Dorn im Auge waren ihm vor allem jene Traditionen, die ihm nicht in den Kram passten. Die lutherische Ablehnung des Heiligen- und Reliquienkultes ist vor allem eine Ablehnung der wirtschaftlichen Verzweckung des Glaubens. Eine Absage daran, die Gottessuche der Menschen dafür zu nutzen, immer nur noch reicher und reicher zu werden.

Für die mirakulöse Wirkung von Reliquien waren Luthers Zeitgenossen gleichwohl empfänglicher als wir heute. Wenn heute evangelische Gläubige an irgendeinen Schrein oder auch in die Luthergedenkstätten pilgern, dann zumeist aus touristischem, vielleicht historischem Interesse, nicht, um sich die Seligkeit zu erwerben.

Ich glaube nicht, dass Luther etwas gegen das kontemplative Wandern hatte. Vielleicht hat sich ihm das ewige Zufußgehen mangels Alternativen irgendwann gehörig aufs Gemüt gelegt. Doch was Luther vor allem gegen den Reliquienkult und das Pilgerwesen aufgebracht hat, war, dass man den Gläubigen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen das Geld aus der Tasche zog.

Evangelische Christen können heute beruhigt auf dem Luther- oder Jakobusweg pilgern, im Ernstfall sogar in Luthersocken gewandet, denn sie wissen darum, dass man sich das Himmelreich nicht erwandern oder erkaufen kann. Darum ging es Luther und das ist auch heute noch wahr. Sich Luthers Murmeln zu beschauen bedient nicht die Sehnsucht nach Spiritualität, sondern die allzu menschliche Neugier. Die, bei Licht betrachtet, schon immer einen guten Teil des Reliquienkultes ausgemacht hat.

Zwischen Evangelikalen und Esoterikern

Der Autor irrt sich aber vor allem in seiner Diagnose der Evangelischen Kirche: Die Evangelische Kirche in Deutschland wird nicht zwischen 1,5 Millionen Evangelikalen und vielleicht halb so vielen Esoterikern zerrieben. Was den Protestanten die Evangelikalen sind, sind den Katholiken die Papsttreuen. Die einen bestehen auf der verbalinspirierten Schrift, die anderen auf das ex cathedra. Beides wirkt aus der Zeit gefallen.

Und in beiderlei Konfessionen gibt es die Zen-Begeisterten, Heilfastenden und Pilger. Übrigens findet man die vor allem in der Generation der heute 50 bis 70-jährigen, also im Großen und Ganzen unter Leuten, die Übung darin haben, ihr Leben zu reflektieren und dabei nicht von Amtskirchen bemuttert werden wollen.

Die große Mehrheit der evangelischen Christen hierzulande – immerhin gut 20 Millionen Mitglieder haben die Evangelischen Landeskirchen –, aber hat weder mit dem einen noch dem anderen Extrem etwas am Hut. Sie gehen in die Ortsgemeinde, nach wie vor auch in den Sonntagsgottesdienst, schicken ihre Kinder in den Evangelischen Kindergarten und Religionsunterricht, lassen sich kirchlich trauen und ihre Kinder taufen.

Sicher, alles seltener als früher und dafür gibt es Gründe. Aber die sind woanders zu suchen, als in einem vermeintlichen Ansturm der Evangelikalen oder Esoteriker.

Das große Luther-Spektakel

Die Mehrheit der Protestanten weiß auch das Luther-Bohei ganz gut einzuordnen. Was von der reformatorischen Botschaft aktuell erscheint, wird aufgenommen. Historische Erkenntnisse über die Gestalt Luthers werden in den Gemeinden weit rezipiert, sei es sein Verhältnis zu den Juden oder seine Polemik gegen die elenden Papisten. Die evangelische Christenheit ist weit davon entfernt, Luther auf ein Podest zu heben und anzujubeln, wie es bisher noch bei jedem Reformationsjubiläum geschehen ist.

Wer behauptet, heute gehe es wieder so zu, sollte sich die nationalistischen Auswüchse der Reformationsjubiläen der letzten 150 Jahre zum Vergleich noch einmal anschauen. Jene Vereinnahmungen spielten sich auf einer ganz anderen Ebene ab als das Luther-Merchandising unserer Tage.

Auf den schwierigen Luther macht nicht zuletzt auch die Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017, Margot Käßmann, immer wieder aufmerksam. All diesen Bemühungen wird natürlich ein Bärendienst erwiesen, wenn von berufener Stelle wieder nur vom Lutherjubiläum und der Lutherbotschafterin gesprochen und geschrieben wird.

Dass es immer und immer wieder um die Person Luthers geht, nervt nicht wenige Evangelische selbst am meisten. Doch das Reformationsjubiläum macht sich am Thesenanschlag und also an Luther als dem lautesten Marktschreier der Reformation fest. Dabei ist Luther heute so schillernd geworden, dass er von Jedem für alles Mögliche dienstbar gemacht werden kann. Und seine Figur ist auch heute der zweckmäßigste – und einfältigste – Bapperl, den man auf alles kleben kann, was sich gut verkaufen soll.

Zu viel des Guten?

Daran trägt auch die Evangelische Kirche eine Mitschuld, der es die ganze Reformationsdekade über nicht gelang, Abstand zum Übervater Luther zu gewinnen. Es ist ja schön, dass einzelne Aspekte der Reformation durch das jahrelange Vorkauen in den Fokus geraten sind, wie z.B. die Rolle der Frauen in der Reformationsgeschichte oder dieses Jahr, unter dem Titel “Reformation und die Eine Welt”, das verantwortliche Leben der Protestanten weltweit.

Ein Jahr vor dem großen Fest bin ich aber sicher nicht der Einzige, der schon jetzt ein wenig feiermüde ist und sich fragt, ob es denn wirklich nötig war, dem Rest der Welt zehn Jahre lang mit “unserer” Reformation auf den Geist zu gehen. Man kann Dinge auch totquatschen.

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Spruchband im Schöpfungsgarten in Lutherstadt Eisleben, Foto: Philipp Greifenstein

Was bleibt denn von der Reformationsdekade übrig? Hat sie die Evangelische Kirche oder gar unsere Gesellschaft verändert? Viele evangelische Christen wünschen sich bis heute eine stärkere soziale Komponente des Reformationsjubiläums. Dafür ist es noch nicht zu spät, weder für das eigentliche Jubiläum, noch im Besonderen für die Weiternutzung der entstandenen Infrastruktur über 2017 hinaus.

Dazu braucht es sicher eine in Teilen veränderte Konzeption der Angebote. Die Evangelische Kirche muss sich fragen lassen, wofür sie die generierte Aufmerksamkeit denn eigentlich einsetzen will. Von Luther stammt der Satz: “Es ist Nichts, dass wir große Kirchen bauen, wenn wir andere bessere Werke, die nötiger und von Gott geboten sind, unterlassen.”

Geldregen im Land der Heiden

Das Luther-Bohei mit Socken, Keksen, Lutherbier aber allein der Evangelischen Kirche vorzuwerfen, ist ungerecht. Dafür tragen auch die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger Verantwortung, die schon seit jeher gut verkaufen wollen.

Und warum auch nicht? Wenn regionale Unternehmen dank Luther ein gutes Geschäft machen, dann bedeutet das nur einen warmen Geldregen in einer Gegend, deren wirtschaftliche Perspektive ansonsten eher karg ausschaut.

Rund um die Wallfahrtsorte der katholischen Geschwister hält sich bis heute eine Infrastruktur, die Menschen gute Arbeit gibt. Statt nach Altötting oder Speyer fahren deutsche Rentnergruppen hoffentlich auch in Zukunft nach Mansfeld und in die Lutherstädte Wittenberg und Eisleben. Die mit lutherischer Reliquienkritik abgesicherte Krittelei daran scheint mir von Futterneid genährt zu sein.

Das Markttreiben um seine Person käme Luther wohl unheimlich vor, wenngleich er sich wohl auch reichlich geschmeichelt fühlen würde. Dass es sich dabei aber um Merchandising und nicht um einen Missbrauch des Volksglaubens handelt, ginge sogar dem mit dem modernen Kapitalismus kaum vertrauten Reformator auf.

Von Lutherbier ist noch keiner selig geworden und durch den Genuss von Lutherkuchen und -kaffee noch keiner ins Himmelreich eingezogen. Und niemand hat das je behauptet! Das macht den großen Unterschied zum Reliquien- und Heiligenkult aus.

Das heilige Land des Protestantismus

Das Taufbecken übrigens, vor dem gelegentlich Gläubige niederknien, fand kurz nach Luthers Taufe für gut 200 Jahre als Vogeltränke im Garten der Alten Lutherschule Verwendung. Dort ist es in Frieden zerfallen. Soviel zum Respekt vor dem Reformator.

Erst die Lutherrenaissancen, die sich schon immer an den Reformationsjubiläen orientierten, sorgten dafür, dass es restauriert und wieder als Taufbecken genutzt wurde und heute frisch komplettiert in der St.-Petri-Pauli-Kirche steht. Und ja, ab und zu schöpfen Besucher aus dem neuen Taufbrunnen kühles Nass. Ist das Heiligenverehrung oder persönliche Tauferinnerung?

Wer mit den internationalen Besuchern in Eisleben ins Gespräch kommt, erlebt eine fast kindliche Begeisterung für die Reformationsgeschichte, die in Deutschland nur selten vorgetragen wird. Und zeichenhaftes Handeln ist den Protestanten nicht fremd: Der Thesenanschlag funktioniert als Symbol bis heute.

Ein Ölzweig aus dem Garten Gethsemane und ein Fläschchen Jordanwasser sind auch unter Protestanten beliebte Mitbringsel aus dem Heiligen Land. Und so wird gleichfalls aus dem heiligen Land des Protestantismus zwischen Wittenberg und Eisleben so manches “mitgenommen”.


Dieses Unter Heiden erschien am 28. September 2016 auf theologiestudierende.de.

Eine Antwort auf „Unter Heiden (17): Luthers Murmeln“

  1. Grundsätzliche Zustimmung, danke für die Wiederveröffentlichung!

    Allerdings greift die Rückführung der reformatorischen Heiligen- und Reliquienkritik auf Luthers Ablehnung von “Traditionen, die ihm nicht in den Kram passten” und die “Ablehnung der wirtschaftlichen Verzweckung des Glaubens” wohl etwas zu kurz. Bzw. bleibt hinter dem orientierenden Potential der reformatorischen Kritik zurück.

    Man kann nämlich schon auch inhaltliche Motive dieser Kritik ausmachen: Ein Problem der Heiligen war etwa, dass sie von Christus “ablenken”, das Problem der Reliquien, dass sie die Rechtfertigungsbotschaft verdunkeln. Damit ergibt sich als Kriterium: Ist die jeweilige Praxis der entweder mehr christozentrischen oder mehr an der Rechtfertigungsbotschaft orientierten Mitte des Christentums konvergent, verhält sie sich dazu neutral oder führt sie gar davon weg?

    Je nachdem kann man die Praxis unterschiedlich bewerten. Das geht vermutlich auch mit verschiedenen Formen der Lutherverehrung…

    Vgl. auch die Kriteriologie, die W. Sparn zur Unterscheidung synkretisitischer Phänomene im Christentum entwickelt hat (TRE Artikel Synkretismus u.ö.).

    Was ja nicht bedeutet, dass man alles verteufeln muss, was dieses Krtierium nicht erfüllt. Ein weites Herz bezüglich persönlicher Frömmigkeit steht einer liberalen Großkirche gut an – auch wenn man nicht alles von amtskirchlicher Seite aktiv unterstützen muss.

    Gruß aus dem marien- und heiligenbegeisterten Würzburg,
    Tobias

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