Selber denken

„7 Wochen ohne“, so heißt die Fastenaktion der evangelischen Kirche. Dieses Jahr steht sie unter dem Motto „Selber denken: 7 Wochen ohne falsche Gewissheiten“. Laut Veranstalter geht es vor allem darum, „eingeschliffene Gewohnheiten zu durchbrechen, die Routine des Alltags zu hinterfragen, seinem Leben möglicherweise eine neue Wendung zu geben oder auch nur wieder zu entdecken, worauf es ankommt.“

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Vom Selberdenken
Das Selberdenken erstaunlicherweise, ist in die DNA der Religionen gar nicht so tief eingeschrieben. Der Gehorsam gegenüber der Gottheit, den Geboten und kultische und moralische Regeln stehen häufig genug im Vordergrund. Ein beliebtes – und bis heute wirksames – Propagandamittel des DDR-Regimes war das Vorurteil, religiöse Menschen könnten gar nicht richtig denken und bräuchten daher den Glauben und ihre Kirche. Da gibt es außerdem die vielen religiösen Strömungen, denen es überhaupt nicht um das Denken geht, sondern um Einfühlung in sich selbst und die Welt. Und schließlich hat in unserer Welt das Brechtsche Diktum „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ noch immer nicht an Wahrheit verloren.

Selberdenken ist, wenn nicht Luxus, so doch ein hohes Gut und nicht selbstverständlich. Der professionelle Denker Harald Welzer verweist in seinem Buch „Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand“ auf den Zusammenhang von Selbstachtung und der Notwendigkeit zum eigenen Denken. Im Duktus der evangelischen Publizistik schreiben auch die Initiatoren von „7 Wochen ohne“, dass es am Ende darum geht, darüber nachzudenken, was unserem Leben letztlich Sinn gibt.

Jesus, Luther, Kant
Vor allem Protestanten nehmen traditionell für sich in Anspruch, eine denkende Religion zu leben. Nun sei nicht verschwiegen, dass auch der Katholizismus (Scholastik) und die Orthodoxie starke Denker zu ihrer Tradition zählen. Doch von Johann Gottlieb Fichte stammt die Sentenz: Jesus, Luther und Kant seien „die heiligen Schutzgeister der Freiheit“, die in den Tagen ihrer Erniedrigung mit Riesenkraft die Fesseln der Menschheit zerknickten, wohin sie griffen. Man muss den Flausen der Lutherrenaissance nicht auf den Leim gehen, um diese Linie der Freiheit, die von Golgatha über Wittenberg in eine Studierstube in Königsberg führt, zu entdecken.

Das Bibelwort zur ersten Woche der Fastenaktion stammt aus dem 5. Kapitel des Briefes an die Gemeinde in Ephesus (gesamter Text). „[…] Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts; […].“ Auch Luther ist sicherlich ein Licht aufgegangen, und die Lichtmetapher ist eine der dringlichsten, um das Geschehen der Aufklärung zu beschreiben. Die Kunst und Architektur der Aufklärungszeit ergießen sich im Lobpreis des Lichts. Mit Kant ist Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Mit dem Selberdenken kommt ans Licht, was bisher verborgen war. Auch alltägliche Missverhältnisse, ethische und moralische Probleme unserer Zeit. Doch würde auch diese Fastenaktion nicht in die Tiefe führen, wenn es den Fastenden nur darum ginge.

Lob des Protestantismus
Ich lebe in einer Welt, in der konfessionelle Grenzen verwischen. In der Katholiken protestantischer sind als ihre Kirche erlaubt. In der Protestanten sich nach dem Katholizismus sehnen – und u.a. deshalb ganz un-lutherisch wieder fasten. Sich seiner Religion zu rühmen, ist ein No-go. Trotzdem will ich einmal ein Loblied auf den denkenden Protestantismus singen. Seine besondere Würde ist gerade seine Kargheit.

Der Protestant braucht weder Papst noch Dogma. Den Denkschriften seiner Kirchen kann er saftig widersprechen oder sie fröhlich ignorieren. Seinen Gott erblickt er nicht in Ritus und (Volks-)Aberglaube, sondern allein im Glauben. Der protestantische Glaube muss notwendiger Weise selbst gedacht werden, weil nur so das Christusgeschehen angeeignet werden kann. Und die Auslegung der Schrift ist am Ende persönliches Geschäft, eben Auslegungssache. Wo sind die Schranken, die das freie Denken und Glauben der Protestanten begrenzen? Wo sind die Leuchtzeichen, die Orientierung bieten?

Einsamkeit
Einsamkeit vor Gott, im Glauben und im Denken, vor den Menschen, ist die Gefahr des Protestantismus. Sind die Soli Martin Luthers allesamt positive Bestimmungen, so sind die negativen Ohne zum Diktum des modernen Protestantismus geworden. Ohne Papst, ohne verbindliches Lehramt, ohne Klimbim, ohne Einheitsauslegung der Bibel, ohne Glaubensgewissheit. Die Soli Luthers wurden gerade auch durch die Aufklärung auf- und angegriffen und können in ihrer Gesamtheit von denkenden Zeitgenossen nicht allesamt in Anspruch genommen werden; jedenfalls nicht ohne erklärende Zusätze, die zur Eigenheit der evangelischen Kirche des Westens geworden sind.

Mit seiner Einsamkeit muss jeder Protestant selbst klar kommen. Bedeutete die Rückkehr in den warmen Schoß der Kirche nichts anderes als selbstverschuldete Unmündigkeit. Deshalb drängt der aufgeklärte Protestantismus immer nach vorne, in Richtung Zukunft. Die ist seine große Hoffnung. Wenn sich der Mensch durch Selberdenken der Kirche entfremdet hat, so ist es nun an der Kirche, sich zu reformieren und eine dem Menschen angemessene Gemeinschaft zu werden – ecclesia semper reformanda.

Der us-amerikanische Schauspieler Alec Baldwin antwortete, vor die Frage gestellt, warum er nach Jahren der Abstinenz wieder in die Kirche ginge, dass er dort „professionelle Denker“ finde, die es vermögen, ihn zum Nachdenken über sein Leben und die Welt anzustiften. Das hat mit dem Bedienen kindlichen, unaufgeklärten Glaubens nichts zu tun.

Zerreißet, zersprenget, zertrümmert die Gruft
Lebt als Kinder des Lichts! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Das ist nicht nur die Message von „7 Wochen ohne falsche Gewissheiten“, sondern auch die Botschaft des Protestantismus in all seiner Kargheit und Hoffnung. Soviel kann verraten werden, in sieben Wochen öffnet sich wieder ein Grab und neues Leben kommt ans Licht.


Dieser Artikel erschien letzte Woche als Teil der wöchentlichen Kolumne “Moment mal” auf theologiestudierende.de.

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